Samstag, 12. Oktober 2013

Selbst die Narben am Arm siehst du heute kaum noch. Sie sind noch da, wie viele Narben, aber deine Augen sehen darüber hinweg. Damals warst du halt noch jung. Ein Jahr nach dem Unfall kamen die Platten raus und der Arm war tatsächlich wie früher. Ja, da hattest du die Zukunft noch vor dir. Da freutest du dich noch auf jeden Tag, der kam.
Oh, was alles hätte nicht aus dir werden können? Es hätte ein großer Meister aus dir werden können. Du würdest vielleicht auf dem Podium gestanden haben und Tausende würden dir zugejubelt haben. Aber du warst nie richtig musikalisch. Du mochtest Musik, das schon. Du hast sogar zwei Instrumente länger gespielt. Trotzdem.
Immerhin hattest du die Träume. Die Vorstellungskraft, etwas Großes zu sein. Wenn nun aber der Tod kommt, rinnen alle diese alternativen Leben, die unbekannte Kraft deines Daseins ebenfalls in dem einen Augenblick des Todes zusammen. Alle Welten werden zu dem auf dem Bett liegenden Leichnam zusammenschrumpfen. Auch wenn man dir Herz und Leber herausschneiden würde, dann wird man nur Herz und Leber sehen. Auch wenn man sie essen würde, wird dein Geist verloren sein. Der Rest, der kalte Rest, das, was man fassen kann und anschauen, nur noch das wird bleiben, einzig dies Bündel, das man davontragen wird und verbrennen. So hast du es bestimmt.
Aber alle deine Gedanken, alle deine vorgestellten Parallelwelten, sie werden tot sein wie du.
Als sie Mozart am Ende noch kalte Umschläge auf die Stirn legten, war das Ende der Requiems vermutlich noch da. Als er dann starb, die Augen brachen, wurden alle Opern und Symphonien, die noch hätten kommen können, vernichtet.
Ein einziger Schlag des Todes, und alle Eigentümlichkeiten eines Menschen, eines Charakters, verschwinden, alle Abgründe werden eingeebnet. Alle Erinnerungen, der kleine Teddybär auf dem Schoß, nein, du wolltest nicht fotografiert werden ohne ihn, ausgeblasen. Die Photos keine Erinnerungsstütze mehr, sondern höchstens Zeugnis für eine frühere Zeit.
Was werden sie wohl aus dem Föhn machen, der gleich neben deinem Bett liegt? Du hast es seit Kindheit geliebt, zu föhnen. Damals schlossest du dich nach dem Duschen im Badezimmer ein, wolltest nicht gestört sein. Erst später ist dir aufgegangen, dass der Föhn auch dazu diente, die Stimmen der Hexe zu übertönen. Deshalb hast du zum Beispiel auch das Geräusch des Staubsaugers geliebt. Solange sie ihn bedienen musste, konnte sie nicht keifen. Zusätzlich wusstest du durch das Geräusch jederzeit, wo in der Wohnung sie sich gerade aufhielt.
Nun, du hast zwar eine Ode auf den Föhn geschrieben, aber auch die ist nicht das bedeutende Stück Literatur geworden, das du dir erträumt hast. Diese Versuche, diese Versuche! Aber du bist da halt einer unter Millionen. Wie bei den Gefühlen, die viele vermutlich ähnlich besitzen, bist du nur das Beispiel einer gescheiterten Existenz. Auch sie, die vielen, fragten sich gegen Ende wohl, was aus ihnen eigentlich geworden war. Was von den Träumen des Knaben und des Mädchens geblieben sei. Nur ganz am Ende logen sie es sich wohl zurecht. Aber betrachteten sie andere unvoreingenommen, mussten sie fast alles Leben als vertan bezeichnen.

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