Selbst die Narben am
Arm siehst du heute kaum noch. Sie sind noch da, wie viele Narben, aber deine
Augen sehen darüber hinweg. Damals warst du halt noch jung. Ein Jahr nach dem
Unfall kamen die Platten raus und der Arm war tatsächlich wie früher. Ja, da
hattest du die Zukunft noch vor dir. Da freutest du dich noch auf jeden Tag,
der kam.
Oh, was alles
hätte nicht aus dir werden können? Es hätte ein großer Meister aus dir werden
können. Du würdest vielleicht auf dem Podium gestanden haben und Tausende
würden dir zugejubelt haben. Aber du warst nie richtig musikalisch. Du mochtest
Musik, das schon. Du hast sogar zwei Instrumente länger gespielt. Trotzdem.
Immerhin
hattest du die Träume. Die Vorstellungskraft, etwas Großes zu sein. Wenn nun
aber der Tod kommt, rinnen alle diese alternativen Leben, die unbekannte Kraft
deines Daseins ebenfalls in dem einen Augenblick des Todes zusammen. Alle
Welten werden zu dem auf dem Bett liegenden Leichnam zusammenschrumpfen. Auch
wenn man dir Herz und Leber herausschneiden würde, dann wird man nur Herz und
Leber sehen. Auch wenn man sie essen würde, wird dein Geist verloren sein. Der
Rest, der kalte Rest, das, was man fassen kann und anschauen, nur noch das wird
bleiben, einzig dies Bündel, das man davontragen wird und verbrennen. So hast
du es bestimmt.
Aber alle
deine Gedanken, alle deine vorgestellten Parallelwelten, sie werden tot sein
wie du.
Als sie
Mozart am Ende noch kalte Umschläge auf die Stirn legten, war das Ende der
Requiems vermutlich noch da. Als er dann starb, die Augen brachen, wurden alle
Opern und Symphonien, die noch hätten kommen können, vernichtet.
Ein einziger
Schlag des Todes, und alle Eigentümlichkeiten eines Menschen, eines Charakters,
verschwinden, alle Abgründe werden eingeebnet. Alle Erinnerungen, der kleine
Teddybär auf dem Schoß, nein, du wolltest nicht fotografiert werden ohne ihn,
ausgeblasen. Die Photos keine Erinnerungsstütze mehr, sondern höchstens Zeugnis
für eine frühere Zeit.
Was werden
sie wohl aus dem Föhn machen, der gleich neben deinem Bett liegt? Du hast es
seit Kindheit geliebt, zu föhnen. Damals schlossest du dich nach dem Duschen im
Badezimmer ein, wolltest nicht gestört sein. Erst später ist dir aufgegangen,
dass der Föhn auch dazu diente, die Stimmen der Hexe zu übertönen. Deshalb hast
du zum Beispiel auch das Geräusch des Staubsaugers geliebt. Solange sie ihn
bedienen musste, konnte sie nicht keifen. Zusätzlich wusstest du durch das
Geräusch jederzeit, wo in der Wohnung sie sich gerade aufhielt.
Nun, du hast zwar
eine Ode auf den Föhn geschrieben, aber auch die ist nicht das bedeutende Stück
Literatur geworden, das du dir erträumt hast. Diese Versuche, diese Versuche!
Aber du bist da halt einer unter Millionen. Wie bei den Gefühlen, die viele
vermutlich ähnlich besitzen, bist du nur das Beispiel einer gescheiterten
Existenz. Auch sie, die vielen, fragten sich gegen Ende wohl, was aus ihnen
eigentlich geworden war. Was von den Träumen des Knaben und des Mädchens
geblieben sei. Nur ganz am Ende logen sie es sich wohl zurecht. Aber
betrachteten sie andere unvoreingenommen, mussten sie fast alles Leben als
vertan bezeichnen.
Samstag, 12. Oktober 2013
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