Samstag, 29. Juni 2013
Ohnehin ist Wolf von Niebelschütz'
Gefühlslage biographisch nicht weiter bezeugt, sondern höchstens aus dem Text
der Gedichte zu erschließen. Manches lässt sich allerdings ohne Kenntnis der
äußeren Umstände nur allegorisch verstehen, auch wenn durchaus anderes
mitgemeint sein kann, gerade etwa beim mehrmals erwähnten Himmelsfloß, das auch Teil des ›Exlibris‹ (der Buchmarke) von J. W.
war.
(Dieses Exlibris [als ›Bücherzeichen‹ eingeklebte Zettel, die zur Kennzeichnung des Eigentümers des Buches dienen] ist eine zufällige Entdeckung, da der Biograph 2007 die Erstausgabe der Kinder der Finsternis aus ihrer ehemaligen Bibliothek erwerben konnte. Die Widmung lautet denn auch:
Für J[.] P[.] / im fernen Malaga, / nicht zu fern für den, / der das Himmelsfloss / nicht vergass. [Privatarchiv des Biographen])
[Vorveröffentlichung aus der Biographie von Dominik Riedo über Wolf von Niebelschütz: »Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk«; erscheint Ende 2013]
(Dieses Exlibris [als ›Bücherzeichen‹ eingeklebte Zettel, die zur Kennzeichnung des Eigentümers des Buches dienen] ist eine zufällige Entdeckung, da der Biograph 2007 die Erstausgabe der Kinder der Finsternis aus ihrer ehemaligen Bibliothek erwerben konnte. Die Widmung lautet denn auch:
Für J[.] P[.] / im fernen Malaga, / nicht zu fern für den, / der das Himmelsfloss / nicht vergass. [Privatarchiv des Biographen])
[Vorveröffentlichung aus der Biographie von Dominik Riedo über Wolf von Niebelschütz: »Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk«; erscheint Ende 2013]
Freitag, 28. Juni 2013
Freitag, 21. Juni 2013
Donnerstag, 20. Juni 2013
Die größten Schreckens-Szenarien öffnen sich mir: Was, wenn eine Partei,
egal welche, definitiv die Oberhand gewinnt: militärisch, wirtschaftlich, wie
auch immer. Die Welt würde völlig geknechtet – vor allem die
›Widerstandsnester‹. Ich kann nur auf die ebenso beschissene Balance of Power
hoffen. … Was man nicht alles sehen muss, wenn man so beschaffen ist!
Mittwoch, 19. Juni 2013
Dienstag, 18. Juni 2013
Samstag, 15. Juni 2013
Über Arno Camenisch gäbe es schon einiges zu sagen – oder
eher über die vielen Literaturpreise, die Sätzen vergeben werden wie: »Der Senn
sitzt am Steuer seines grauen Justys am späten Abend neben der Hütte mit dem Zwetschgenwasser
in der Hand« (wer bitte sitzt wo und vor allem wer bitte hat das Zwetschgenwasser
in der Hand?) … – aber die Sprache verschlägt es einem über seinen ›Mentor‹, der
noch nie etwas von Blut-und-Boden-Literatur gehört zu haben scheint: »Arno ist ganz
nah bei seinen Menschen, diesen Bergen. Nahe bei seinem Blut. Das spürt man sofort.«
Freitag, 14. Juni 2013
Alfred Andersch
›fälschte‹ in Kirschen der Freiheit (sic!)
sein ›Leben‹: Die Fälschung wurde also zu seinem Leben? Ja, auch … Aber was ist
wirklich? Eine Frisch-Frage ohne
Antwort … Alle anderen Schriftsteller wissen: Die Literatur. Der Rest ist nur
die Realität.
Das einfache Schweizer Volk: Wie würdest du das sehen, wenn sie dich grad foltern, häh?
Ich: Diese Frage braucht doch keine Antwort …
Der Politiker: Wichtiger wäre, dass so alles entschuldbar ist!
Das einfache Schweizer Volk: Wie würdest du das sehen, wenn sie dich grad foltern, häh?
Ich: Diese Frage braucht doch keine Antwort …
Der Politiker: Wichtiger wäre, dass so alles entschuldbar ist!
Die Kunst kann, so weit sind wir heute (hoffentlich), alles behandeln: Auch WC-Szenen, den
Tod, Geld … Die Frage wäre eher: Was will
sie behandeln? Das aber ist eine Frage des Charakters, der auch bei den
Künstlern zum Glück völlig verschieden angelegt sein kann (Launen der Natur).
Sowieso macht sie all das noch nicht zur Kunst oder Unkunst. Sie muss mehr sein
als bloß Stoff.
Donnerstag, 13. Juni 2013
Ausgesetzt in eine Welt, die alle Harmonie plötzlich verloren hat, einem
Bewusstsein ausgeliefert, das sich kreiselnd als Leidensbewusstsein erfährt, siedelt
das Individuum seine Vorstellungen von Ruhe und Geborgenheit im Bereich des Vorrationalen
an: Literatur entsteht. (Wie man sie dann aufs Papier bringt, ist eine andere Sache.)
Mittwoch, 12. Juni 2013
Katzen haben keine genaue Vorstellung von sich und den Menschen: Sie
wissen nicht, dass sie eine Katze
sind. Aber sehen sie denn nicht, dass eine andere Katze etwas anderes ist als
ein Mensch? Doch, in der Größe, aber sonst? – Umgekehrt darf man sich auch
nicht täuschen lassen: Nur weil man seiner Katze alles Leid erzählt, wird sie nicht
zum menschlichen Kameraden. Depressiv wird sie, weil sie die Gefühle spürt,
nicht, weil sie die Worte als solche versteht. Aber das alles ist ja schon furchtbar
oft gesagt worden …
Viele Menschen mögen Menschen mit Abgründen. Ich bin selten so viel über
meinen Job ausgefragt worden wie jetzt als Erwachsenenbildner in der geschlossenen
Strafanstalt. Das aber heißt, dass die Menschen auch von Gewalt fasziniert sind,
vom Krieg. Darum all diese Beststeller und Kassenschlager. Darum aber auch (zu einem
Teil) all die Kriege.
Dienstag, 11. Juni 2013
Ich besitze keinen pond
Tocharisch verwitzle ich mir selber
Stich und Nadel gewohnt
Für die jungen Lämmer bin ich
Zu schwerhörig, zu alt
Um den Blocksberg zu umreiten
Für leichteren Dienst aber
Darf man sich mich kaufen: Ich würde
Oft vor Wut schäumen
Die Metaphern zerhacken
Die Münder füllen
Über Ferienzulage und
Freizeit kann man reden
Allerdings
Nicht mit mir
Tocharisch verwitzle ich mir selber
Stich und Nadel gewohnt
Für die jungen Lämmer bin ich
Zu schwerhörig, zu alt
Um den Blocksberg zu umreiten
Für leichteren Dienst aber
Darf man sich mich kaufen: Ich würde
Oft vor Wut schäumen
Die Metaphern zerhacken
Die Münder füllen
Über Ferienzulage und
Freizeit kann man reden
Allerdings
Nicht mit mir
Im Mittelalter wurden Engel oft so beschrieben, wie heute Außerirdische.
Was man daraus lernen kann? Dass früher schon Außerirdische auf die Erde
gekommen seien? – Ne, dass viele eben so blöd sind, diesen Kurzschluss zu
machen: Es heißt doch nur, dass wir uns schon immer Hilfe von außen erträumt
haben und mit dem zunehmenden technischen ›Fortschritt‹ das Ganze mehr in den
Bereich der Wissenschaft zu holen versuchen. – Warum die ›Außerirdischen‹ dann
ähnlich beschrieben werden wie die ›Engel‹? Meine Güte, die Phantasie der
meisten Menschen ist platt wie ein Stück Fladen. Sie haben ja auch heute noch
Kinder und immer wieder dieselben Kinder.
Es ist für mich immer wieder erschreckend zu realisieren, wie schlechte
Gedächtnisse alle Leute haben. Die leben ohne großes Bewusstsein ihrer
Vergangenheit. Sollte das etwa auch die Lösung der Beziehung zum Unbewussten
sein? Wer viel weiß, dem gleitet weniger ins Unbewusste ab, und er ist somit
kontrollierter …? Den anderen drückt das Unbewusste immer voll durch, sie sind
›instinkt‹gesteuerter …?
Montag, 10. Juni 2013
Samstag, 8. Juni 2013
Freitag, 7. Juni 2013
Donnerstag, 6. Juni 2013
Sie frisst und frisst und frisst. Im Dorf erzählt
man sich, dass sie nur so alt geworden sei, weil sie jederzeit bereit sei, ein Kreuz
an den Boden zu kotzen. Das helfe. Das Dorf steigert seinen Nahrungsverbrauch darauf
drastisch. Das Bundesamt für Speis & Trank schaut vorbei. Niemand auf der Straße.
Sie kommen fast gar nicht mehr zur Tür raus. Der schlanke Metzger bringt ihnen alles.
Lebt ganz gut davon. Auch die Ärzte. Aber was soll nun der kleine Beamte tun? Sie
laden ihn zum Essen ein. Oh, nein, er zieht auch ins Dorf. Wird wohlig fett. Kann
eine Welt so leben? Was will die Armee dagegen tun? Ihnen gehen die Rekruten aus.
Zumindest aus jener Gegend. Aber das reicht ihnen. Panik macht sich breit. Sie nehmen
eine fettlösende Kanone mit und ziehen in Kompaniestärke ins Dorf. Keine Gegenwehr.
Sie lassen sie einnehmen. Aber kaum sind sie 15 Kilo leichter, gehen sie hinters
Haus, grasen dort, saufen direkt aus den Eutern der Kühe fette fette Milch. Essen
Käfer. Was soll man tun, was soll man bloß tun?
Mittwoch, 5. Juni 2013
»Im Grunde kotzen mich Schriftsteller an, die nicht von der Idee
wegkommen, ein Außenseiter oder Prophet zu sein, und das, was sie als ihre
individuelle Freiheit bezeichnen, gegen die kollektive Freiheit auszuspielen
versuchen, die sich an der Gemeinschaft vergehen.« Tatsächlich ist das Leben eines Schriftstellers nicht
einfach mehr wert, nur weil er schreibt und vielleicht ›ewige Kunstwerte‹ schafft.
Ich habe das an einer Bemerkung eines Freundes letzthin deutlich gespürt: Wenn
er sagt, noch vor zwanzig Jahren sei man Büchern hinterhergerannt, auf dem
Antiquariatsmarkt, heute werde alles ins Netz gestellt, er sehe seinen Beruf
als Antiquar langsam als sinnlos an …, so zeigt das doch deutlich, dass ein
Beruf nicht auf ewige Zeit zwangsläufig zu bestehen braucht. Auch Bücher oder
andere Kunstwerke können damit nicht für eine ›Ewigkeit‹ geplant werden. Ein
Text soll entstehen für die jetzige Zeit und weil es dem Schriftsteller selbst
gefällt, ihn zu schreiben (und hilft damit kurzfristig der gleichen Anzahl Menschen
wie andere Berufe). Also Spiel und direkte Wirkung. Den Klassiker-Status für
einige Jahrhunderte gibt es höchstens gratis obendrauf. (Zu fragen wäre äußerstenfalls
noch: Gibt es eine feste humane Ethik, die Schriftsteller mehr befolgen als andere
Menschen?)
Dies meine Poetik auf den knackigsten Po gebracht.
Allerdings wäre eine gewisse Überheblichkeit doch begründbar vom Lesen aus: Ein wahrer Schriftsteller kann der perfekte Leser sein. Und also deswegen von mehr Nutzen für die Kunst (für ihre unmittelbare Erhaltung, ihre lange Überlieferung und ihre mögliche Interpretation). Wie bei der Religion: Nur vom Rezipienten aus macht so etwas mythisch überhöhbaren Sinn.
All dies schreibt nicht mein wahres Ich.
Dies meine Poetik auf den knackigsten Po gebracht.
Allerdings wäre eine gewisse Überheblichkeit doch begründbar vom Lesen aus: Ein wahrer Schriftsteller kann der perfekte Leser sein. Und also deswegen von mehr Nutzen für die Kunst (für ihre unmittelbare Erhaltung, ihre lange Überlieferung und ihre mögliche Interpretation). Wie bei der Religion: Nur vom Rezipienten aus macht so etwas mythisch überhöhbaren Sinn.
All dies schreibt nicht mein wahres Ich.
Dienstag, 4. Juni 2013
Ich liege einmal mehr im Spital. Die Sirene draußen heult. Ich weine über
mein Leben. Der Bart wächst immerhin noch, sage ich mir, aber sonst? Ich fasse mich
ans Kinn. Suche Härchen am Ohr. Draußen heult die Sirene. Das Cortison fließt in
die Vene. Ich kann es spüren, kalt und kribbelnd. Draußen heult die Sirene. Schuhe
eilen geschäftig umher. Ich stelle mir die Gesichter dazu vor mit geschlossenen
Augen. Und ein Leben. Draußen heult die Sirene. Der Stoff rinnt. Ich habe wieder
in die Hose gemacht. Leicht. Das soll vorkommen, versichert mir der junge Arzt.
Aber ich schäme mich trotzdem vor der Pflegefachfrau. Draußen heult die Sirene.
Die Sonne wärmt junge Pflanzen. Ich sitze im Dunkel und lese nicht einmal. Ich greife
mir ans Kinn. Einer soll es doch tun. Ein Besucher sieht ins falsche Zimmer. Was
habe ich mit ihm zu tun? Jetzt ist die Blase leer. Draußen heult die Sirene.
Montag, 3. Juni 2013
EIN SCHÖNER HORIZONT – CHARLES BAUDELAIRE UND SEINE EXOTISCHEN ›LANDSCHAFTEN‹
Also, Baudelaire: seine Liebesgedichte, in denen immer diese ›Berge‹, ›Schluchten‹ und ›Eilande‹ auftauchen: Titten, Fotzen, weibliche Körper.
Zweifel? – Man lese: Im Schatten ihrer Brüste wohlig ausgeruht, / Dem Weiler gleich, der friedlich im Gebirg versteckt. ›Im Gebirg‹! Also Berge.
Und: Wenn ich geschlossenen Augs in lauer Nacht / Den Duft einatme deiner warmen Brüste, / Entrollt sich vor mir eine heitere Küste. Eben; beziehungsweise: ›uneben‹. Genau. Oder anders gesagt: »Oh, Inseln vor Afrika!« Denn dorthin, mitten in den Indischen Ozean, auf Mauritius und La Réunion (Insel der ›Zusammenkunft‹), reiste Baudelaire mit gerade mal 20 Jahren.
Diese tropische Welt hat ihn geprägt. So müssen die ›Inseln‹ in der Folge mehrmals metaphorisch herhalten: Ein träges Eiland, von Natur bedacht / Mit seltenen Bäumen, Früchten, prall von Saft. – Nunja, der Mann weiß, wovon er spricht; er mochte halt sowieso volle Titten: Die hohen Brüste, die des Kleides Seide straffen, / Sind vorgewölbt und wie ein schöner Schrein beschaffen.
Aber was bei einer ›Küste‹ folgerichtig mit dabeisein muss, ist das ›feuchte Element‹. Baudelaire führt es deutlich sexuell konnotiert ein: Du ähnelst einem schönen Horizonte, / Entflammt von Sonnen nebelgrauer Zeiten … / Wie leuchtest du: ein feuchtes (sic!) Land. Braucht man mehr dazu zu sagen?
Was auch endlich die Frage nach den ›Schluchten‹ und ›Untiefen‹ beantwortet, wenn die Frau vor uns gar ›kontinentenhaft‹ erscheint, voilà: Das Schmachten Asiens und Afrikas Erglühen, / Verschollene Welten, fern, fast wie in Grüften, / Durch Tiefen dieses würzigen Waldes ziehen! Ausrufezeichen. Exakt: Diese perfekt abgeschmeckten Speisen kostete er nur zu gern. Und man sieht ihn förmlich durch die ›verschollenen Welten‹ kraxeln. Denn diese Tiefe lotet mann doch gerne aus …
TROTZ alledem muss man sagen, dass Baudelaire sich wirklich ein ›neues Ideal von Weiblichkeit‹ erschreibt. Denn immerhin: Es ist nicht mehr der Mann, der die Frau verführt; er gibt sich nur noch ihren Reizen hin wie ein Wanderer oder Bergsteiger der Landschaft.
Dieses Gefühl hat ihm schließlich unmittelbar im täglichen ›Umgang‹ mit ›seinen‹ Frauen geholfen. Wenn die große Liebe Jeanne Duval ihm davonlief …; wenn er ihr einmal mehr davonlief … – dann konnte er etwas später wieder versöhnlich sein. Denn sogar wenn man dazwischen andere ›Landschaften‹ besucht hat, so kann man in eine einst geliebte Landschaft ohne tiefe psychische Probleme wieder zurückkehren.
Aber wenn wir grad bei ›psychischen Problemen‹ sind: Sobald Baudelaire die Frauen einmal derart in sein Werk eingestrickt hatte und sich selbst in dieses Phantasieland hinein, vermag er auch seine Liebes-Stimmungen und -Gefühle wie auf einem Messgerät innerhalb dieser Skala anzugeben: Wenn er sich gut fühlte, schaut er von außen auf das geliebte ›Eiland‹, nähert sich ihm an: Meine Liebe, tief und sanft wie das Meer, die anschwoll wie zur Klippe hin die Flut. Fühlte er sich schlecht, sitzt er wie gefangen in der ›Schlucht‹: Ich fleh dein Mitleid an, / Aus jenem tiefen Abgrund, wo mein Herz versinkt.
Wobei ›Abgrund‹ nicht gleich ›Tiefe‹ meint: Letztere blieb ihm eben manchmal verwehrt – weswegen er sich wie im ›Abgrund‹ fühlt; darin konnte er aber auch schmachten, weil er es sich irgendwie eingebrockt hatte, wehmütig an die andere ›Schlucht‹ denkend: Die Schwüre, Düfte, Küsse, die nie zu Ende gehen, / Werden sie auferstehen aus uns verwehrten Tiefen?
Denn mit zunehmendem Alter, sein vom leiblichen Vater geerbtes Geld als Dandy verbraucht, angesteckt mit der Syphilis, durfte und wollte er (Apollonie Sabatier, die sogenannte ›Präsidentin‹, die in ihrem Pariser ›Salon‹ zahlreiche Künstler versammelte, hätte sich ihm nach Jahren der anhimmelnden Fernliebe hingegeben; Baudelaire verzichtete) nicht mehr in alle ›Tiefen‹ tauchen. So schuf er sich eben künstliche ›Eilande‹, künstliche Paradiese: Les Paradis artificiels.
FREILICH behält er seine Bildwelt, die gewählte Abbildungsfunktion der Sprache für Elemente der Realität bei: Da ihm sowieso alles zu Inseln ›verschwimmt‹, können die sechs wegen Obszönität und Unmoral inkriminierten Gedichte aus Les fleurs du Mal, die 1857 zum Verbot seines bekanntesten Werks führten, ein Jahr vor seinem Tod in Les Épaves, also als ›Strandgut‹, wieder auftauchen.
Und selbst der Tod kann so vorausahnend in passender Weise gesehen werden: Die Einladung zur Reise spricht es aus: Wie köstlich müsst es sein, / Dorthin zu gehen und vereint / Sich liebend verschwenden, / Lieben und enden / Im Land, das dir ähnlich scheint!
Also, Baudelaire: seine Liebesgedichte, in denen immer diese ›Berge‹, ›Schluchten‹ und ›Eilande‹ auftauchen: Titten, Fotzen, weibliche Körper.
Zweifel? – Man lese: Im Schatten ihrer Brüste wohlig ausgeruht, / Dem Weiler gleich, der friedlich im Gebirg versteckt. ›Im Gebirg‹! Also Berge.
Und: Wenn ich geschlossenen Augs in lauer Nacht / Den Duft einatme deiner warmen Brüste, / Entrollt sich vor mir eine heitere Küste. Eben; beziehungsweise: ›uneben‹. Genau. Oder anders gesagt: »Oh, Inseln vor Afrika!« Denn dorthin, mitten in den Indischen Ozean, auf Mauritius und La Réunion (Insel der ›Zusammenkunft‹), reiste Baudelaire mit gerade mal 20 Jahren.
Diese tropische Welt hat ihn geprägt. So müssen die ›Inseln‹ in der Folge mehrmals metaphorisch herhalten: Ein träges Eiland, von Natur bedacht / Mit seltenen Bäumen, Früchten, prall von Saft. – Nunja, der Mann weiß, wovon er spricht; er mochte halt sowieso volle Titten: Die hohen Brüste, die des Kleides Seide straffen, / Sind vorgewölbt und wie ein schöner Schrein beschaffen.
Aber was bei einer ›Küste‹ folgerichtig mit dabeisein muss, ist das ›feuchte Element‹. Baudelaire führt es deutlich sexuell konnotiert ein: Du ähnelst einem schönen Horizonte, / Entflammt von Sonnen nebelgrauer Zeiten … / Wie leuchtest du: ein feuchtes (sic!) Land. Braucht man mehr dazu zu sagen?
Was auch endlich die Frage nach den ›Schluchten‹ und ›Untiefen‹ beantwortet, wenn die Frau vor uns gar ›kontinentenhaft‹ erscheint, voilà: Das Schmachten Asiens und Afrikas Erglühen, / Verschollene Welten, fern, fast wie in Grüften, / Durch Tiefen dieses würzigen Waldes ziehen! Ausrufezeichen. Exakt: Diese perfekt abgeschmeckten Speisen kostete er nur zu gern. Und man sieht ihn förmlich durch die ›verschollenen Welten‹ kraxeln. Denn diese Tiefe lotet mann doch gerne aus …
TROTZ alledem muss man sagen, dass Baudelaire sich wirklich ein ›neues Ideal von Weiblichkeit‹ erschreibt. Denn immerhin: Es ist nicht mehr der Mann, der die Frau verführt; er gibt sich nur noch ihren Reizen hin wie ein Wanderer oder Bergsteiger der Landschaft.
Dieses Gefühl hat ihm schließlich unmittelbar im täglichen ›Umgang‹ mit ›seinen‹ Frauen geholfen. Wenn die große Liebe Jeanne Duval ihm davonlief …; wenn er ihr einmal mehr davonlief … – dann konnte er etwas später wieder versöhnlich sein. Denn sogar wenn man dazwischen andere ›Landschaften‹ besucht hat, so kann man in eine einst geliebte Landschaft ohne tiefe psychische Probleme wieder zurückkehren.
Aber wenn wir grad bei ›psychischen Problemen‹ sind: Sobald Baudelaire die Frauen einmal derart in sein Werk eingestrickt hatte und sich selbst in dieses Phantasieland hinein, vermag er auch seine Liebes-Stimmungen und -Gefühle wie auf einem Messgerät innerhalb dieser Skala anzugeben: Wenn er sich gut fühlte, schaut er von außen auf das geliebte ›Eiland‹, nähert sich ihm an: Meine Liebe, tief und sanft wie das Meer, die anschwoll wie zur Klippe hin die Flut. Fühlte er sich schlecht, sitzt er wie gefangen in der ›Schlucht‹: Ich fleh dein Mitleid an, / Aus jenem tiefen Abgrund, wo mein Herz versinkt.
Wobei ›Abgrund‹ nicht gleich ›Tiefe‹ meint: Letztere blieb ihm eben manchmal verwehrt – weswegen er sich wie im ›Abgrund‹ fühlt; darin konnte er aber auch schmachten, weil er es sich irgendwie eingebrockt hatte, wehmütig an die andere ›Schlucht‹ denkend: Die Schwüre, Düfte, Küsse, die nie zu Ende gehen, / Werden sie auferstehen aus uns verwehrten Tiefen?
Denn mit zunehmendem Alter, sein vom leiblichen Vater geerbtes Geld als Dandy verbraucht, angesteckt mit der Syphilis, durfte und wollte er (Apollonie Sabatier, die sogenannte ›Präsidentin‹, die in ihrem Pariser ›Salon‹ zahlreiche Künstler versammelte, hätte sich ihm nach Jahren der anhimmelnden Fernliebe hingegeben; Baudelaire verzichtete) nicht mehr in alle ›Tiefen‹ tauchen. So schuf er sich eben künstliche ›Eilande‹, künstliche Paradiese: Les Paradis artificiels.
FREILICH behält er seine Bildwelt, die gewählte Abbildungsfunktion der Sprache für Elemente der Realität bei: Da ihm sowieso alles zu Inseln ›verschwimmt‹, können die sechs wegen Obszönität und Unmoral inkriminierten Gedichte aus Les fleurs du Mal, die 1857 zum Verbot seines bekanntesten Werks führten, ein Jahr vor seinem Tod in Les Épaves, also als ›Strandgut‹, wieder auftauchen.
Und selbst der Tod kann so vorausahnend in passender Weise gesehen werden: Die Einladung zur Reise spricht es aus: Wie köstlich müsst es sein, / Dorthin zu gehen und vereint / Sich liebend verschwenden, / Lieben und enden / Im Land, das dir ähnlich scheint!
Sonntag, 2. Juni 2013
»Wer einmal mit einer Rauminstallation aus zwanzig plan verlegten großen
Zementplatten durchgekommen ist, der hat es als Künstler geschafft.« – Das gilt
sogar heute noch, selbst wenn diese Tätigkeit damals wie heute auch durchgeht
unter der Berufsbezeichnung ›Gärtner‹ oder ›Landschaftspfleger‹. Aber im Barock
war dafür dies eine Kunst. Was sich einzig aufdrängt ist die Frage: Warum Kunst
als etwas erleben, das im Museum steht? Sollte sie nicht im Alltag helfen? Sie strebe
das schon an? Dann müsste man aber schleunigst der Architektur wieder zur ›KÜNSTLICHKEIT‹
verhelfen!
Samstag, 1. Juni 2013
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