…
Das verlorene Paradies. Es war nicht
einfach, die Kindheit. Das verlorene Paradies war das Leben. Nein, es war das
Leben, das man sich erhoffte. Das Leben, das man nie gelebt hat.
Du empfandest dich oft als rätselhaft.
Wie kann man so ein Leben führen, das man als Leben bezeichnen möchte. Wie viel
weißt du wirklich von dir. Stunden vor dem Tod?
Du kennst einen Teil der Bilanz des
Nicht-Geschafften:
Du hast deine wahren Pläne eigentlich nie
umgesetzt. Du bist nie deine sehr krassen Visionen angegangen: etwa den
Präsidenten von Gottes eigenem Land zu töten, als es noch dieser Cowboy war.
Oder Töfffahrer auf den Schweizer Pässen abzuknallen, jedes Wochenende einen.
Die Wirkung wäre nach sechs Wochen phantastisch gewesen: freie, lärmfreie Fahrt
für Radrennfahrer.
Aber du hättest es nicht ausgehalten,
verurteilt zu werden von einem Gericht, obwohl du ethisch im Recht gewesen
wärst. Also ließest du es sein.
Ja, du warst das ganze Leben zu fest
Narzisst. Deswegen ist dir paradoxerweise nicht gelungen, mehr dich selbst zu
sein.
Die Tode anderer sind dir lange nicht
nahegegangen. Erst als deine Partnerin starb, damals, sie, mit der du hofftest
alt zu werden, hast du gemerkt, was es meint, jemanden zu haben, der einen
liebt.
Aber danach war bald wieder alles beim
Alten, verdammt.
Und du hast von einem Land geträumt,
wo man einfach ein Haus bauen kann, wo man will, weil es nur wenige Menschen
gibt, dort. Aber dann fiel dir ein, dass du dann ganz vieles selbst machen
müsstest, gerade eben, weil es so wenig Menschen geben würde. Also selbst
Gemüse anpflanzen, Getreide eventuell auch, sicher eigene Tiere halten, die man
versorgen musste jeden Tag. Eigentlich bist du dafür nicht geschaffen. Warst es
nie.
Trotzdem, diese Welten hast du dir oft
erträumt: eine Welt, die dich zwingt, mit deinen Händen zu arbeiten, du und
einige wenige wie du …
Oder du stelltest dir vor, der letzte
deiner Art überhaupt zu sein. Der letzte Mensch auf Erden.
Ah, du weißt schon, wie es sein
könnte, Amokläufer zu sein, alle anderen, die eben nicht so sind,
auszulöschen. Die kalten Wellen dieser Gefühle sind immer mal wieder über dich
gekrochen. Aber du bist wie in eine warme Gegenströmung geschwommen, wo du dann
den Ist-Zustand doch klammheimlich als in Ordnung empfunden hast.
Aber das war auch falsch. Das ganze
Leben hast du nicht das getan, was du eigentlich hättest tun sollen, alles
falsch, alles vertan, alles verloren. Nein, nie besessen.
Aber was wäre das gewesen, was du ganz
dringend hättest tun sollen?
Du hättest mit zweiundzwanzig ein
Wunderwerk geschrieben haben wollen.
Du hättest mit dreiundzwanzig zusammen
mit zwei Freunden ein Album veröffentlichen wollen, Pop-Musik sozusagen, die
alle Popmusik endgültig obsolet gemacht hätte. Also auch hier das letzte Album
forever.
Oder du hättest einen Film machen
wollen, wie er noch nie gemacht worden ist. Der in Spiegelsälen spielen würde
und trotzdem die subjektive Kamera hätte haben können – ohne dass man die
Kamera im gedrehten Film hätte sehen können. Du hättest den Oscar abgelehnt,
was soll denn der?
Oder du hättest all das nicht sein
wollen, sondern ein einfacher Arbeiter, der Tag für Tag seine Arbeit macht,
ohne aufzufallen. Aber wenn er einmal krank würde, hätte viel nicht geklappt.
Du wärst aber nie krank geworden, hättest nie Aufhebens darum gemacht, was du
alles tust.
Oder du hättest in den Kongo reisen
wollen und die Begräbnisriten untersuchen. Also religionsethnologische
Überlegungen anhand kongolesischer Gemeinschaften, mit einem anschließenden
Vergleich dieser Riten mit den abendländischen Begräbnissitten.
Du hättest dich bei all denen
entschuldigen wollen, denen du irgendwie geschadet hast. Nein, es wäre ein
Lebenszeitjob gewesen. Du hast viele Menschen verletzt, vielen Menschen Leid
zugefügt.
Du hättest die Träume, die du mit
19 Jahren hattest, wie es sein würde, später ein berühmter Schriftsteller
zu sein, diese hättest du mit 40 Jahren nochmals erleben wollen. Nochmals
träumen, wie es sein könnte, früher das sein zu wollen, was man später nicht
war.
Oder du hättest in Beziehungen offener
sein wollen. Jaja, du hast dir immer
einige Freiheiten genommen; du warst aber ebenso fast immer eifersüchtig, wenn
sie das auch gemacht hat. Obwohl ihr das ein zwei Mal zusammen abgemacht
hattet, dass jeder tun könne, was sie und er wolle. Trotzdem. Es ließ dir keine
Ruhe. Lieber hast auch du auf alles verzichtet. Aber warum eigentlich? Wäre die
Freiheit nicht ehrlicher gewesen, stärker. Ein Teilen, ein Teilen mit der Welt,
dem Zentralofen etwas nähergerückt?
Und: Du wolltest schreiben. Aber immer
hast du nur gewissermaßen in fremden Stimmen gesprochen. Dir fehle der ›eigene
Ton‹, hieß das. Immer und immer wieder. Denn ein paar Mal hast du es versucht,
deine Manuskripte doch an Verlage zu senden. Aber immer, wenn du angefangen
hast, über alle die Dinge zu schreiben, die dir wichtig waren, sind sie auf dem
Papier gestorben.
Es ist, als wäre ein Geist hinter dir
gestanden, der dafür geschaut hätte, dass du ja nichts Großes leisten wollest, weil dann die eigene Mutter
posthum berühmt würde, da es ihr Sohn zu etwas gebracht hätte. Hast du dich
deswegen wie immer selbst sabotiert? Gib mir die Augen, damit ich sehe. Ich
will Klarheit. Einen Moment der Klarheit, bitte, einen Moment.
Nein, nicht wieder zwischen die Ohren.
Uh, ich versinke im wohligen Fühlen, ich greife daneben, ich …
…
Dienstag, 13. August 2013
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