Dienstag, 13. August 2013


Das verlorene Paradies. Es war nicht einfach, die Kindheit. Das verlorene Paradies war das Leben. Nein, es war das Leben, das man sich erhoffte. Das Leben, das man nie gelebt hat.
Du empfandest dich oft als rätselhaft. Wie kann man so ein Leben führen, das man als Leben bezeichnen möchte. Wie viel weißt du wirklich von dir. Stunden vor dem Tod?
Du kennst einen Teil der Bilanz des Nicht-Geschafften:
Du hast deine wahren Pläne eigentlich nie umgesetzt. Du bist nie deine sehr krassen Visionen angegangen: etwa den Präsidenten von Gottes eigenem Land zu töten, als es noch dieser Cowboy war. Oder Töfffahrer auf den Schweizer Pässen abzuknallen, jedes Wochenende einen. Die Wirkung wäre nach sechs Wochen phantastisch gewesen: freie, lärmfreie Fahrt für Radrennfahrer.
Aber du hättest es nicht ausgehalten, verurteilt zu werden von einem Gericht, obwohl du ethisch im Recht gewesen wärst. Also ließest du es sein.
Ja, du warst das ganze Leben zu fest Narzisst. Deswegen ist dir paradoxerweise nicht gelungen, mehr dich selbst zu sein.
Die Tode anderer sind dir lange nicht nahegegangen. Erst als deine Partnerin starb, damals, sie, mit der du hofftest alt zu werden, hast du gemerkt, was es meint, jemanden zu haben, der einen liebt.
Aber danach war bald wieder alles beim Alten, verdammt.
Und du hast von einem Land geträumt, wo man einfach ein Haus bauen kann, wo man will, weil es nur wenige Menschen gibt, dort. Aber dann fiel dir ein, dass du dann ganz vieles selbst machen müsstest, gerade eben, weil es so wenig Menschen geben würde. Also selbst Gemüse anpflanzen, Getreide eventuell auch, sicher eigene Tiere halten, die man versorgen musste jeden Tag. Eigentlich bist du dafür nicht geschaffen. Warst es nie.
Trotzdem, diese Welten hast du dir oft erträumt: eine Welt, die dich zwingt, mit deinen Händen zu arbeiten, du und einige wenige wie du …
Oder du stelltest dir vor, der letzte deiner Art überhaupt zu sein. Der letzte Mensch auf Erden.
Ah, du weißt schon, wie es sein könnte, Amokläufer zu sein, alle anderen, die eben nicht so sind, auszulöschen. Die kalten Wellen dieser Gefühle sind immer mal wieder über dich gekrochen. Aber du bist wie in eine warme Gegenströmung geschwommen, wo du dann den Ist-Zustand doch klammheimlich als in Ordnung empfunden hast.
Aber das war auch falsch. Das ganze Leben hast du nicht das getan, was du eigentlich hättest tun sollen, alles falsch, alles vertan, alles verloren. Nein, nie besessen.
Aber was wäre das gewesen, was du ganz dringend hättest tun sollen?
Du hättest mit zweiundzwanzig ein Wunderwerk geschrieben haben wollen.
Du hättest mit dreiundzwanzig zusammen mit zwei Freunden ein Album veröffentlichen wollen, Pop-Musik sozusagen, die alle Popmusik endgültig obsolet gemacht hätte. Also auch hier das letzte Album forever.
Oder du hättest einen Film machen wollen, wie er noch nie gemacht worden ist. Der in Spiegelsälen spielen würde und trotzdem die subjektive Kamera hätte haben können – ohne dass man die Kamera im gedrehten Film hätte sehen können. Du hättest den Oscar abgelehnt, was soll denn der?
Oder du hättest all das nicht sein wollen, sondern ein einfacher Arbeiter, der Tag für Tag seine Arbeit macht, ohne aufzufallen. Aber wenn er einmal krank würde, hätte viel nicht geklappt. Du wärst aber nie krank geworden, hättest nie Aufhebens darum gemacht, was du alles tust.
Oder du hättest in den Kongo reisen wollen und die Begräbnisriten untersuchen. Also religionsethnologische Überlegungen anhand kongolesischer Gemeinschaften, mit einem anschließenden Vergleich dieser Riten mit den abendländischen Begräbnissitten.
Du hättest dich bei all denen entschuldigen wollen, denen du irgendwie geschadet hast. Nein, es wäre ein Lebenszeitjob gewesen. Du hast viele Menschen verletzt, vielen Menschen Leid zugefügt.
Du hättest die Träume, die du mit 19 Jahren hattest, wie es sein würde, später ein berühmter Schriftsteller zu sein, diese hättest du mit 40 Jahren nochmals erleben wollen. Nochmals träumen, wie es sein könnte, früher das sein zu wollen, was man später nicht war.
Oder du hättest in Beziehungen offener sein wollen. Jaja, du hast dir immer einige Freiheiten genommen; du warst aber ebenso fast immer eifersüchtig, wenn sie das auch gemacht hat. Obwohl ihr das ein zwei Mal zusammen abgemacht hattet, dass jeder tun könne, was sie und er wolle. Trotzdem. Es ließ dir keine Ruhe. Lieber hast auch du auf alles verzichtet. Aber warum eigentlich? Wäre die Freiheit nicht ehrlicher gewesen, stärker. Ein Teilen, ein Teilen mit der Welt, dem Zentralofen etwas nähergerückt?
Und: Du wolltest schreiben. Aber immer hast du nur gewissermaßen in fremden Stimmen gesprochen. Dir fehle der ›eigene Ton‹, hieß das. Immer und immer wieder. Denn ein paar Mal hast du es versucht, deine Manuskripte doch an Verlage zu senden. Aber immer, wenn du angefangen hast, über alle die Dinge zu schreiben, die dir wichtig waren, sind sie auf dem Papier gestorben.
Es ist, als wäre ein Geist hinter dir gestanden, der dafür geschaut hätte, dass du ja nichts Großes leisten wollest, weil dann die eigene Mutter posthum berühmt würde, da es ihr Sohn zu etwas gebracht hätte. Hast du dich deswegen wie immer selbst sabotiert? Gib mir die Augen, damit ich sehe. Ich will Klarheit. Einen Moment der Klarheit, bitte, einen Moment.
Nein, nicht wieder zwischen die Ohren. Uh, ich versinke im wohligen Fühlen, ich greife daneben, ich …



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