Sonntag, 13. Juni 2021

ICH HABE ANGST

Wir alle sitzen nun schon seit etlicher Zeit vermehrt in den eigenen vier Wänden und versuchen uns vorzustellen, wie ein Leben nach all dieser Corona-Belastung weitergehen wird. Und ja, wir dürfen uns zunehmend auf diese Zeit freuen: Covid-19 scheint bezwingbar oder zumindest eindämmbar und eine Normalität zeichnet sich endlich am Horizont ab.

Aber ein Aspekt dieser ganzen SARS-CoV-2-Zeit sitzt zumindest einigen differenziert denkenden, empfindsamen Bürgerinnen und Bürgern tief im Nacken – und bereitet auch mir zunehmend schlaflosere Nächte: die Bereitschaft vieler Mitmenschen zu Wissenschaftsfeindlichkeit und Ressentiments.

Es hat mit der seit Jahren anhaltenden Tendenz begonnen, sich vor allem Möglichen zu fürchten, eine Mode, die aus den USA importiert wurde, wo man, wenn man will, sich zu jeder Tageszeit im Fernsehen über irgendwelche Gefahren belehren lassen kann; die meisten davon völlig hochgebauscht. Aber wer sich eben vor allem fürchtet, fürchtet sich insgesamt zu viel, doch zu wenig vor dem wirklich Furchterregenden. Dabei müssen Ängste eingestuft und bewertet werden, sonst ist ihnen ein Gemeinwesen völlig hilflos ausgesetzt. Nur durch eine Einteilung kann entschieden werden, wovor es sich zu fürchten lohnt.

So dürfen wir uns eben durchaus freuen, dass der Ausnahmezustand bald vorbei sein wird. Und wir wollen eigentlich jetzt schon vorspulen, die Trauer und die Angst um das überspringen, was verloren ging oder was noch kommt. Das ist jetzt, wo es Impfungen gibt, auch legitim. Wir wollen wieder Spaß und Freude.

Aber etwas, was weiter bestehen wird, sollte auch Gegenstand von Furcht bleiben: Die radikalisierende Leugner-Bewegung wird fortbestehen, auch wenn das vorgeschobene Objekt ihres Protestes (denn warum haben sie sich offenbar nicht schon gegen einen korrupten Staat gewehrt, als sie noch nicht persönlich betroffen waren, etwa durch die Masken?), die freiheitseinschränkenden Maßnahmen gegen Covid, längst einkassiert sein werden.

Denn in ihrem an die Wand gemalten Untergangstheater finden sich immer neue, immer andere Bedrohungen: Mal ist es der anstehende dritte Weltkrieg, mal ist es die neue Weltordnung, mal ist es die Hygiene-Diktatur oder der Überwachungsstaat, der uns allen Mikrochips einpflanzen will, etwa durch die Impfungen. Aber etwas ist all diesen Varianten gemeinsam: Die politischen Fragen, die sie aufwerfen würden, wollen von diesen oft gesellschaftsspaltenden Gruppierungen gar nicht angegangen oder schon gar nicht gelöst werden.

Ihre Themen sind reine Spielfiguren in einem Spektakel der Angst, austauschbar und ziemlich flexibel, es braucht sie nur als Trigger der Ressentiments. Es geht tatsächlich regelrecht um die Kultivierung von Ohnmacht, um die merkwürdige Selbstbestätigung, die in der Außenwelt nur Anlässe für gefühlte Kränkung und Verletzung sucht.

Entscheidend ist dabei stets der Blick von ›unten‹ nach ›oben‹, ›das Volk‹ (welches aber wie in China und bei vielen rechtspopulistischen Parteien nach Gutdünken definiert wird; nur wer das will, was sie wollen, gehört dazu – oder steht zumindest auf der ›richtigen‹ Seite), das als entmündigt oder unterdrückt stilisiert wird, gegen eine ›Elite‹, die im vermeintlich Geheimen, entkoppelt vom Überprüfbaren, operiert. Diese ›Elite‹ taugt als rhetorischer Passe-partout, der mal ›Juden‹ (Corona heiße auf Hebräisch rückwärts gelesen, also divoc, nicht vergeblich Spaltung, schreibt mir einer der Exponenten) oder ›Kosmopoliten‹ meint, mal ›Feministinnen‹ oder ›die Medien‹, mal ›Bill Gates‹, ›die Wissenschaft‹ oder schlicht die Politiker (die zudem mit chinesischen Strippenziehern Pädophilen-Parties feiern sollen). Sie berufen sich auf die demokratische Idee der Volkssouveränität, um sie radikal autoritär zu wenden (im Juni 2021 gab es in der Schweiz Werbeblätter für jeden Briefkasten, in denen dazu aufgerufen wurde, »[d]en Firmen [!] ›Schweizerische Eidgenossenschaft‹, ›POLIZEI‹ [sic; warum in Majuskeln, entzieht sich einer Logik – wie auch die Wahl, was in Anführungszeichen gesetzt wird und was nicht], Gerichten, Politikern kein Gehör mehr [zu] schenken«).

Es wird also Aufklärung simuliert, um antiaufklärerische Dogmen zu verbreiten. Die soziale Spaltung, die sie zu bedauern behaupten, ist ihre tiefste politische Sehnsucht. Denn sie wollen gar keine Zusammengehörigkeit, keine Versöhnung: Ihre Wissenschaftsfeindlichkeit inszeniert sich als ›höhere Wahrheit‹, die selbstzufrieden beim Gegner auf ›manipulierte‹ Quellen verweist, während sie sich auf ›echte‹ Informationen berufen – und so verkoppelt sich der krudeste Aberglaube und das absurdeste Verschwörungsmärchen immer mit dem entscheidenden, schmeichelnden Selbstbild des eingeweihten Zirkels (wo dann auch immer auftrumpfend mit dem Finger gezeigt wird, wenn mal ein Wissenschaftler zugibt, dass er sich geirrt habe; dabei unterscheidet das Zugeben von Irrtürmern gerade die wissenschaftliche Arbeit von ihrer hämischen, ewigen Unabweichlichkeit).

Darum gehen sie inzwischen noch weiter und degradieren jene, die nicht ihre Meinung haben, quasi zum Ungeziefer, eine uralte faschistische Methode: Denn auf besagten Flyern heißt es, nur wer keine Maske trage und damit eine »Lebenderklärung« abgebe, sei danach »maskenbefreit / steuerbefreit / bussenbefreit / massnahmenbefreit / ein freier Mensch«; dieser ›freie Mensch‹ unterscheide sich denn auch, so der Flyer, durch sein »Mensch«sein von den anderen Mitwesen, die nurmehr »Personen« seien. Dabei sind es eben gerade sie, die damit ihre Kontrahenten wortwörtlich entmenschlichen. Sie offenbaren dadurch ihre tiefliegende antidemokratische Haltung, die es eben dringlich macht, diese Bewegungen nicht mehr als kleine, isolierte Mobilisierungseinheiten zu politischen Krisenerfahrungen zu verstehen, sondern sie und ihre Methoden als zusammenhängende Strukturen und Einstellungen zu erkennen, die unsere demokratischen Gesellschaften immer weiter destabilisieren, weil sie den gemeinsamen Bezug zur Wirklichkeit, die res publica (wortwörtlich: öffentliche Sache), systematisch unterwandern.

Diese antiaufklärerischen, autoritären Bewegungen brechen also wie gesagt nicht einfach nur lokal und spontan auf, sondern sie werden international und strategisch gezüchtet (etwa von Bloggern von Putins Gnaden) und gefördert, um Misstrauen zu schüren, um Unsicherheit zu erzeugen und demokratische Institutionen zu erschüttern.

Das war schon bei der US-Wahl 2016 und beim BREXIT 2020 zu sehen. Sie profitieren von einer Privatisierung der Öffentlichkeit, in der die Plattform-Giganten wie Google und Facebook ein Geschäftsmodell entwickelt haben, das kein ökonomisches Interesse an der Unterscheidung von wahr und unwahr, richtig und falsch hat. Damit machen sich diese ›Kämpfer‹ gerade zu den Rittern einer Sache, die sie meist zu bekämpfen vorgeben, sie werden, zu allem anderen obendrein, zu nützlichen Idioten, die sich nur deswegen nicht wie früher der einsame Spinner im Dorf fühlen, weil sich all die Einsamen heute im Internet mit den digitalen Dorfspinnern all der Online-Dörfer weltweit zusammenschließen können.

Es ist schon jetzt absehbar, dass dieselben gekränkten Affekte, dieselben Anfechtungen wissenschaftlicher Modellierungen sich wiederholen werden, wenn es um den Klimawandel und die notwendigen sozial-ökologischen Transformationen geht. Je mehr der Einzelne dieser Affektierten betroffen sein wird, desto stärker wird er um sich schlagen.

Es wird auch keine Rolle spielen, wie die Regierungen das Problem jeweils anzugehen versuchen, es können liberale oder konservative oder linke Konzepte und Maßnahmen sein, die man entwickelt – man wird sie aus diesen Kreisen mit Ressentiments und populistischer Mobilisierung beatworten.

Eine Demokratie aber, die nicht mehr der Wahrheitsorientierung verpflichtet ist, eine Öffentlichkeit, die nicht mehr nach Gründen und Argumenten sucht, sondern nur noch Daten und Ressentiments ausbeuten will, ist wirklich etwas, wovor es sich zu fürchten lohnt.

Also ich, ich habe Angst. Vor der Dummheit und vor dieser Mentalität, die Jahrhunderte der wissenschaftlichen Aufklärung nicht nur nicht mehr respektiert, sondern geradezu glaubt, sie wären im Besitz der Einsicht, ohne aber je handfeste Lösungsansätze zu liefern, die über ein bloßes ›Das wollen wir so nicht‹ oder ›Da stimmt doch etwas nicht, wenn wir es nicht auf einen Blick hin erfassen und zusätzlich für gut befinden‹ hinausgehen würden.

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