Sonntag, 25. April 2021

NOTWENDIGES ÜBEL?
 
Der Tod des Autors. Ich war damals, als das Wort ein geflügeltes wurde, mit der engen Auslegung nicht einverstanden. Natürlich können Texte auch ohne identifizierbaren Verfasser bestehen. Das können an sich sogar Liebesbriefe – falls sie gut geschrieben sind. Aber mit der Annahme, dass das Leben und die Absichten eines Autors beim Schreiben eines Werkes keine Rolle spielen, bin ich nicht einverstanden. So kann ein Satz von Joyce im Kontext seines Gesamtwerks und unter Berücksichtigung seiner Vita etwas ganz anderes heißen als wenn man dengleichen Satz im genau gleich geschriebenen Buch, innerhalb eines genau gleich verfassten Werks eines Affen vor einer Schreibmaschine, dem zufällig alle Bücher wie von Joyce glücken, in derselben Reihenfolge, von CHAMBER MUSIC bis zu FINNEGANS WAKE, vorfindet. Und es kann zwar schon sein, dass gewisse Autoren nicht verstehen, was sie eigentlich schreiben – drum gelingt mittelintelligenten Schriftstellern auch immer mal wieder ein gutes Buch; aber das ist, betrachtet man die Klassiker, also jene Werke der Literatur, die zu Recht überlebt haben, wirklich die kleinere Menge (obwohl viele der besten Werke immerhin eine Mischung von Plan und unbewusstem Drängen ist; aber da kommt genau wieder die Bedeutung ihrer Vita ins Spiel). Das Phänomen hat nichts damit zu tun, dass praktisch jeder Text auf eine Vielzahl anderer Texte verweist, die wieder auf andere Texte verweisen etc.; das kann unbewusst geschehen wie auch bewusst geplant werden – Umberto Eco hat zu Letzterem ein gutes Beispiel geliefert.

Wie gesagt, ich hatte damals keine Freude an dieser Auffassung.

Jetzt aber schlägt das Pendel voll in die andere Richtung. Es scheint als wären die Medien-Menschen und Alltagskonsumenten nicht fähig, einmal etwas ausgewogen zu betrachten, in Ruhe und mit Bedacht. Denn heute ist es wirklich umgekehrt: Der literarische Text ist nur noch ein Abglanz des Autors, der immer gegenwärtiger wird, sei es als Inbild reinster Schönheit oder sprachloser (sic!) Jugend, die sich auf zahllosen Verlagsprospekten mitteilt, ohne dass man ihr Büchel noch zu lesen braucht. Die Mitteilung wird immer gezielter genutzt: Dass da ein Verfasser sei, der oder die durch sein oder ihr bloßes Dasein besteche, noch bevor er oder sie eine einzige Zeile geschrieben habe. Und wenn der Autor nicht betörend ist, dann zumindest interessant, wenn schon nicht das Gsichtl, dann zumindest die Vita. Mitten im Krieg geboren oder Giraffenjäger auf Gibraltar (auch wenn es das gar nicht gibt), mitten aus der Ausbildung geflüchteter koptischer Priesterzögling oder ein Napoleon-Bewunderer, der sich entsprechend kleidet etc. usw. Der Lebenslauf wird zum Roman, der Autor zum Kunstwerk. Oscar Wilde wäre stolz (obwohl er auch etwas konnte). Heute also ist nicht der Autor mehr tot, sondern der literarische Text. Es gibt zwar noch Restposten, literarische Postskripta, Schatten ihrer Vorgänger (sic!), kleine Schatten über allem. Aber ihre Verfasser gehen meist unbeachtet dahin, während die menschlichen Artefakte im Rampenlicht stehen, im Frühstücksfernsehen auftreten und auch ganz gut kosmetische Produkte Gunther von Hagens sein könnten, tote Menschlein mit bedeutendem Lebenslauf. Der Text nurmehr ein notwendiges Übel des Autors und der Autorverehrung. Wozu braucht man ihn eigentlich noch?!

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