Samstag, 29. Mai 2021

Es ist eigentlich verrückt, effektiv: Je tiefer gewisse Erleidnisse im tabuisierten Bezirk der frühseelischen Deformation liegen, je notwendiger sie sich folglich der Benennung entziehen, desto bohrender wird doch (zumindest bei Kulturschaffenden) in der Tiefe die Begierde nach der konformen Abbildung auch dieser Gehirnvorgänge, gerade weil die Erleidnisse nie ruhen. Trotzdem können viele Schriftsteller, die das spüren, aber bei sich eben noch nicht derart weit sind, alles bis ins Letzte bewusst zuzulassen, bis zu einem sehr späten Zeitpunkt doch nicht anders, als ihre Leidnisse immer wieder bloß verdeckt auszusprechen. Doch bleibt jedem guten Leser auch so nicht allzu viel verborgen: «[W]enn man das Stethoskop auf die richtigen Stellen in Biografie, Briefsammlungen, Werken, aufsetzt, vernimmt man unweigerlich das Gleiche, wie bei allen Ganz-Großen», sagt schon Arno Schmidt. Nämlich eine quasi unaussprechliche – oder anders gesagt: eben nur in verschobenen Bildern, also in Metaphern aussprechbare – Sehnsucht, die sie auf dem Urgrund all der Bildfelder noch nicht einmal selbst richtig zu sehen wagen.

So kommt es zu Versteckspielen und damit eben allgemein zu Verformungen, speziell zu solchen Metaphern, die sich zwar der Ur-Sache ihrer selbst sicher sind, sich aber doch in die Verkleidung von üblichen Begriffen kleiden – wodurch eine Prosa entsteht, die jede ihrer Zeilen zugleich vor der Wut der verurteilenden Gemeinschaft in Sicherheit bringt und gleichzeitig doch – oder eben: gerade dadurch – vom Eigentlichen spricht.

Drum verfallen derart viele Schriftsteller, je näher sie dem Unaufschiebbaren kommen, ins nicht mehr so ganz Aufgeschobene. Oft manifestiert es sich zuerst erkenntlich in jenen ältlichen Wendungen, die alternde oder kränkliche oder zumindest vorausahnende Schriftsteller immer mehr lieben, oder sie lassen in Märchen oder Ähnlichem einen Grundzug des Kindhaften sehen, ein mit der schöngefärbten Hoffnung spielendes Sensorium, das nicht selten rückwärts auf eine Insel oder eine Höhle (oder auf das ›Innere‹ eines Kuhfells) zielt oder in ein Inneres beziehungsweise ein Bild des Innern, das letztlich für das Intrauterine steht.

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Aber letztlich sind auch diese Metaphern und kindhaften Grundzüge nur Wundbedeckungen, und selten – ein Tabu! – werden sie in Alterswerken ganz am Ende dann doch zertrümmert. Aber wenn sie es werden, sind diese Werke meist geheimnisvoll und für die Meisten unverständlich; sie sind merklich ‹anders› und werden von vielen als ‹regressiv› wahrgenommen; doch geht die gesamte Zielkraft eben bewusst rückwärts, und verschmäht in dieser entscheidenden Phase die von der Wunde lebenslang produzierte Dichtung (im doppelten Sinn), die unsichtbare Steuermechanik der verletzten Sprache, um an die Wunde selbst zu gelangen.

Es ist eine Bewegung hin zu den Müttern, wie es Goethe nannte – und eigentlich erst da kommt die wirkliche MACHT DER DICHTER zum Tragen (sic! Denn das ist es ab dem Moment, ab dem nichts mehr die Wunde verdeckt, auch metaphorisch nichts, wenn die Buchstabenhalde nackt neben der klaffenden Wunde liegt) ... bis zur unhörbaren Privatsprache als Letztes ... die letzte Ideenform der unaussprechlichen Sehnsucht, verschwebender Endklang, das Absolute der Literatur, das wahrhaft Losgelöste, das Eigentliche Werk, ganz meta ta physika. Es ist, wie bei allen Ganz-Großen, eigentlich identisch mit dem Schluss selbst (drum doch sammelte Ernst Jünger Letzte Worte), mit Tod und Ende, die endlich erreichte Insel im Sturm, das Behältnis, auf dem steht: «Es ist ein Mensch fertig». Es ist das Erreichen der Leere, die die endgültige Austreibung des Menschen aus dem Humanum des leidenden Ichs, die Leere, die endlich den ruhelos Vektor stillstehen lässt: Befreiung, die von keiner Gegenkraft mehr umstimmbare Unlesbarkeit, die erwünschte Rückkehr in die Urgeborgenheit des Ewig-Weiblichen, Ewig-Mütterlichen, das als ungestilltes Verlangen im Ich fortlebt, wie schon in der Heimkehr der Protagonisten in den mittelalterlichen Helden-Romanen mit ihrer doppelten Reise und doppelten Wiederkehr, einmal nach der Jugend, und die endgültige, ruhige Wiederkehr im Alter, nach Allem, wie das Wieder-eins-Werden des Ursprungs und Ziels bei Poe im am Ort pulsenden Gewässer von Zaïre.

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