Dienstag, 1. September 2020

Rückzugshausen, den 31. Juni 2020  
Lieber Y. Z.

Aaahhh, die Befreiung: Endlich einmal nicht mehr jeden Tag auffallen! Endlich einmal zu großen Stücken ‹normal› sein dürfen. Es war (und teilweise ist es noch) eine schöne Zeit, der Lock-Down, und ich bin froh, dass ich sie erleben durfte. Schon traute ich mich nicht mehr, an so was zu denken, so was zu hoffen ...
Du weißt ja, dass ich all die gesellschaftlichen Überpflichten nicht mag, nicht das Extrem-freundlich-Sein, das Händeschütteln, erst recht nicht die drei Küsschen, das alles stößt mich ab. Aber auch nur die Vorstellung, zwei Mal die Woche mich in den Rahmen einer «gemütlichen Runde» zu begeben, lässt mir den Schweiß auf die Stirn treten und mein Herz unruhig zu schnell schlagen.
Aber so, so hatte ich immer eine gesellschaftlich voll akzeptierte Ausrede. Ja, meist noch besser: Ich wurde gar nicht mehr aufgefordert, dorthin oder dahin zu kommen. Und musste ich einkaufen gehen, waren die Läden halbleer, meine Abendspaziergangsrunde noch weniger frequentiert als am Weihnachtsabend. Das alles ließ mich wieder hoffen für die Welt: Wir Menschen schaffen es vielleicht doch mal noch, jeder in seiner Wohnung zu bleiben und zu lesen, verbunden nur mehr mit Telefonbildschirmen und ab und zu einem Treffen der Familie.

In diesem Sinne viele liebe Grüße aus meinem Literaturrefugium ...

DR

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