Samstag, 5. Dezember 2020

WAS MIT DER SCHWEIZER LITERATUR NICHT STIMMT

oder

ANTI-CAMENISCH & Co.

 

                  Literatur setzt sich nur aus scheinbaren Kleinigkeiten zusammen.

                  Scheinbaren – weil das kleinste Detail stets mitentscheidet.

Karlheinz Deschner

 

Ich verstehe es einfach nicht. So einfach ist es. Klar: Die Verkaufszahlen sprechen für sich (und zwar tatsächlich, auch in meinem Sinne; siehe unten), und wer beim Lesen glücklich ist, immerhin, dem ist dies an sich Wertung genug. – Trotzdem verstehe ich es nicht. Denn ich habe im Studium unter Professor von Matt an der Universität Zürich gelernt, dass man gute Literatur durchaus von schlechter unterscheiden kann und dass ausgebildete Germanisten das durchaus auch können sollten. Und drum wohl kann ich es nicht verstehen.

Worum es geht? «Goldene Jahre», das neue Buch von Arno Camenisch (*1978 in Tavanasa), erschienen im Mai dieses Jahres 2020, stand – wie man der Webseite des Schriftstellers entnehmen kann – wochenlang in den Bestsellerlisten. Es muss sich gut verkauft haben. Vor allem aber war es, als ich es kaufte, für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, eines von zwanzig Büchern im gesamten deutschen Sprachraum. Weil Juroren solcher Preise in der Regel durchaus sachgerecht beurteilen können, dachte ich mir ganz ohne Hintergedanken, ich könnte mir da wieder einmal ein Buch eines Mitautors gönnen, das ich gerne lese werde, wie etwa Daniel Kehlmanns Bücher, die sich ja ebenfalls gut verkaufen und deren Autor auch viele Preise bekommen hat.

Doch was für eine Enttäuschung! Klar, das Buch hat einen griffigen Titel und kommt sogar, anders als man es auf den ersten, vereinfachten Blick erwarten würde, nicht in einem goldenen Kleid daher. Der eher leuchtend grasgrüne Umschlag steht damit geschickt vielmehr für den Frühling als für die späten Jahre des Frauenduos, um das sich in «Goldene Jahre»alles dreht. Erleben doch die beiden Damen durch das Erzählen, so könnte man sich denken, eine Art zweiten Frühling, und ganz sicher spielt das Buch im Frühling. Nur nicht allzu offensichtlich daherkommen, das unterscheidet Literatur manchmal lohnenswerter Weise vom Journalismus. So denke ich mir zu Beginn auch nichts über die Situation, in der die beiden Frauen im Buch quasi berichten. Es wird sich dann schon noch klären, denke ich, welche dialogische oder erzählerische Situation hier vorliegt.

Aber dazu gleich vorneweg: Die Leserin oder der Leser wird sich bis zum Ende fragen müssen, wenn sie/er sich das fragen will, an wen die beiden Frauen sich hier eigentlich wenden: Es ist kein auf ein Speichermedium gesprochener Brief, kein Bericht einer Radio- oder Fernsehanstalt und sie filmen sich auch nicht selbst zur Erinnerung. Sie erzählen einfach füreinander (nur «einander» kann ich nicht gut sagen, spricht doch etwa Margrit am Anfang ins Leere hinaus, ohne dass Rosa-Maria schon direkt bei ihr wäre). Und da war es bei mir als Leser schon so weit, dass ich mehr als stutzte: Wenn man sich derart lange kennt wie die beiden Protagonistinnen, und wenn man zusammen seit 51 Jahren einen Kiosk führt, dann beginnt man doch nicht aus dem Nichts heraus folgendermassen zum Gegenüber zu reden: «Eine Freude ist das, wie schön sie leuchtet, sie lächelt, da geht einem grad das Herz auf, wenn wir am Morgen die gelbe Leuchtreklame einschalten, in aller Herrgottsfrühe, wenn noch die letzten Sterne am Himmel sind.» Abgesehen davon, dass einem wohl nach 51 Jahren im selben Job, so gerne man ihn tut, nicht mehr jeden Tag das Herz aufgeht über dieser Tätigkeit, so falsch ist es, wenn der Autor hier die eine Figur zur anderen – obwohl die in dem Moment wie gesagt nicht mal dort steht – sagen lässt, dass die Leuchtreklame gelb ist. Das wüsste die doch schon lange! Man sagt auf der Baustelle auch nicht: «Gib mir mal den gelben Meter». Die Farbe ist hierbei total unwichtig (ausser es läge ein anderer roter daneben). Ebenso wüsste Ihr Gegenüber im Buch wohl, dass sie dies jeweils sehr früh am Morgen tun und dass dann, zumindest in dem betreffenden Monat, die Sterne teilweise noch am Himmel stehen (und für das ganze Jahr gesehen wäre dies zudem schlicht falsch). Oder noch anders gesagt: Keine alte Kollegin spricht so gestelzt zu ihrer alten Kollegin.

Nun könnte man einwenden, es sei nicht ganz sicher, ob beziehungsweise was da alles gesprochen werde, denn das «sie lächelt» spricht sie kaum aus; sie könnte sich das also bloss bei sich denken. Doch da verteidigt mich der nächste Satz: «Und bald wird es hell, sagt sie». Sie spricht also wirklich; aber eben: Im ganzen Text kann man nie herauslesen, dass sich die Frauen an einen Dritten wenden würden. Da macht es auch keinen Sinn, dass sie weiter anfügt: «Seit 1969 gibt es uns, bereits, ja, ja, im 69 ist die Leuchtreklame zum allerersten Mal angegangen, in ihrer ganzen Pracht, das ganze Tal ist aufgeleuchtet an diesem Tag, sogar von Brigels runter konnte man die Leuchtreklame sehen, wenn man oben auf der Kante stand, dort wo der steile Hang beginnt, und runterschaute, sah man das Licht auf dem Dach vom Kiosk brennen wie das ewige Liechtli in der Kirche.» Erstens ist der Vergleich mit dem ewigen Licht in der Kirche nicht gut gewählt, denn dies brennt auch in der Nacht, aber das kann man immerhin noch der Figur zuschreiben; zweitens aber: Wer braucht einer Geschäftspartnerin, die seit 51 Jahren am gleichen Ort arbeitet, die nähere Umgebung noch zu beschreiben? Es ist ihr doch klar, wo genau die betreffende Stelle in Brigels wäre, von dem man die Leuchtreklame sehen kann. Völlig blöd wird es dann, wenn die Margrit gleich darauf dialogisch zu wiederkäuen beginnt: «Ein Bijou von einer Leuchtreklame ist das, sagt die Margrit, im August 1969 ist sie das erste Mal angegangen». In welcher denkbaren Szene, selbst wenn das Ganze für eine Dritte oder einen Dritten gesprochen wäre, sollte sie das wiederholen? – Die Erzählsituation für das ganze Buch ist schlicht falsch.

Doch war ich hier noch bereit, das einfach mal zu akzeptieren; es könnte ja sein, dass Camenisch wenigstens ein guter Beobachter der Menschen in dem Bündner Tal, der Surselva, wäre. Aber das musste ich mir ebenso gleich aus dem Kopf schlagen, folgt doch Plattitüde auf Plattitüde. Dass sie bereits 51 Jahre an ihrem Kiosk arbeiten, will die Rosa-Maria gar nicht recht glauben, es komme ihr vor, und hier also die Plattitüde, «als seien wir doch erst gerade gestartet». Huch, man sieht regelrecht das erstaunte Gesicht über dem abgelebten halben Jahrhundert. Hier stellte sich mir dann eben die Frage: Will der Autor eigentlich einfache Menschen darstellen oder eher tiefsinnige? Wären sie tiefsinnig, würden sie sich bestimmt nicht derart simpel und ohne weitere Gedanken über die Jahre wundern. Wären sie aber einfache Büezer, so reden sie nicht entsprechend.

Tatsächlich sind die Plattitüden wohl auch eher die des Autors. Wird doch im Folgenden dann fast jeder Mann, dem die beiden in der Zeit als Kiosk-Frauen begegnet sind, «ein feiner Bursche», «ein lieber Kerl» o. Ä. genannt, so oft, dass es auch nicht mehr ein bestimmtes Wesensmerkmal sein kann, vor allem, da beide Frauen das eine oder andere Mal diese Beschreibung wählen (was traut der Autor diesen Frauen eigentlich alles nicht zu?). Der Astronaut Collins: «der liebe Kerli»; der Radrennfahrer Eddy Merckx: «ein feiner Bursche»; Hugo Koblet (dessen Rennen aber eigentlich vor ihrer Zeit sich abspielten): «ein Hübscher»; sogar der Glasaugen-Columbo aus der TV-Serie ist «charmant» (und ausgerechnet bei dem sagt die Margrit: «Wenn der hier an unserem schönen Kiosk mit Zapfsäule mit seinem Cabriolet angefahren gekommen wäre, ich weiss nicht, was dann passiert wäre»; als würden sich Frauen nur die ‹Charmanten› auswählen, nicht etwa jene, die richtig sexy sind; ob da einer ein völlig falsches Frauenbild hat?); Roger Moore ist ebenfalls «ein feiner Kerl»; und auch der Ludovic ist – na: was? – «ein feiner Kerl».

Ähnlich platt oder falsch die Vergleiche, wie schon beim ewigen Licht: «Das ist wie ein Auto mit drei Rädern» – gerade die beiden Geschäftspartnerinnen am Kiosk mit Tankstelle seit 1969 sollten wissen, dass es dreirädrige Autos gab und gibt – bis in die 1970er-Jahre hinein war zum Beispiel die BMW Isetta noch oft im Strassenbild zu sehen. Die beiden Frauen aber wollen bloss wissen, dass es in Italien solche Modelle gibt, ohne genauere Kenntnis. Da spielt es im Sinne des Autors auch keine Rolle, dass eine Dreierbeziehung, von der die beiden Frauen reden, als eine solche «über Kreuz» bezeichnet wird. Eine Liebe ‹übers Kreuz› müsste wohl eher vier Parteien haben, nicht drei.

So verpasst Camenisch auch zuverlässig die Orte, an denen er punkten könnte, etwa seine beiden weiblichen Hauptpersonen betreffend. Klar sagt Margrit einmal, sie wären Exoten gewesen, aber nicht etwa dafür, 1969 als Frauenzweierteam ein Geschäft eröffnet zu haben, sondern für eine Banalität: «Man stelle sich vor, ein Kiosk, sagt die Margrit, und gleich dazu noch eine Zapfsäule, und das im Jahr 1969, das war revolutionär, Exoten waren wir». Waren doch damals, als die Autobenzintanks noch kleiner waren und der Kilometerverbrauch grösser, die Zapfsäulen an den Strassen in den Schweizer Alpen keine Seltenheit. Und weil man als Besitzer oder Angestellter nicht im Kalten oder im Regen warten konnte, baute man eben einen kleinen Laden oder Kiosk dazu. Sie aber, die beiden Frauen, die gerade sagten, sie seien Exoten gewesen, etwas, was es selten gab, meinen dann noch, dass sie «eine Epoche [...] geprägt [hätten] mit unserem Kiosk mit Leuchtreklame, das muss uns jemand zuerst mal nachmachen.» – Ja, genau: Das gezielte Nachmachen anderer, also das Vorbild-Sein wäre eben gerade die Definition davon, wie man eine Epoche prägt! Hingegen wären sie dann wiederum keine Exoten. Man kann es drehen und wenden wie man will: Es ist schlicht falsch.

Aber um nochmals auf das zurückzukommen, was Margrit und Rosa-Maria zueinander nach 51 Jahren reden. Meint doch die Margrit zu ihrer Kollegin, mit der sie über ein halbes Jahrhundert dort gearbeitet hat: «Dafür ist der Service top, sagt die Maria, also wer hier tankt, bekommt für einen kleinen Aufpreis auch gleich noch einen Kaffee, den haben wir immer parat». Ach so, möchte man im Namen der Kollegin sagen, ich weiss: Ich bin seit 51 Jahren mit dabei! Aber Rosa-Maria scheint die Demenz zu haben: «Ausser Kerosin gibt es hier alles, und sobald die Pistole im Tank steckt und die gute Zapfsäule den Most hochpumpt, gehen die Zahlen auf der Anzeige durch und zählen dir auf den Rappen genau, wie viel jemand schon wieder getankt hat.» Nicht wahr? Ich weiss! Aber es endet keineswegs dort: «Den Kaffee gibt’s, wie bereits gesagt, obendrauf, der ist gratuit». Nicht wahr?! (Ausser dass er zuvor noch «einen kleinen Aufpreis» kostete!)

Je nun, wir aber sind weiter beim Autor Camenisch, der sich offensichtlich auch nicht gut informiert über Themen, die er nicht kennt. So meint er etwa, bei einer Tour de Suisse sollte an allen Orten, die befahren würden und heikel sind, die Strassen vorher neu geteert werden; man wolle doch die Fahrer nicht gefährden. Dabei ist das so nicht der Fall; im Gegenteil: Oft werden Strecken ausgewählt, auf denen der Belag im Rang etwas ausmachen kann, bei dem also fahrerisches Geschick gefragt ist. Zudem soll bei Camenisch die Tour de Suisse nur ein einziges Mal in der Surselva vorbeigekommen sein, wenn man doch leicht nachschauen kann, dass dies seit 1969 mehrmals der Fall war. Dem Autor aber scheint so etwas egal zu sein; in einem Interview wundert er sich sogar, dass es das Fruchtbonbon ‹Sanagol›, das 2020 im Buch noch gelutscht wird, seit 2002 nicht mehr gibt. Da ist dann auch das Lob der NZZ ein leeres, wenn sie schreibt, der Autor halte in seinen Büchern getreu fest, welche Welten alles verschwänden: Wer diese so total falsch darstellt, tut den verschwundenen Welten keinen Gefallen, sondern lässt sie eher noch mehr verschwinden, weil man sich ihrer nach der Lektüre vermutlich falsch erinnert (und es wäre ein Leichtes gewesen, die Fruchtbonbons nur bis ins Jahr 2002 zu erwähnen).

Da erstaunt es dann schon nicht mehr, dass der Autor selbst innerhalb der Geschichten Unlogisches berichtet: Einerseits schauen die beiden Damen immer in die Unterhaltungsmagazine, die bei ihnen ausliegen. Und zwar quer durchs Sortiment. Sie sind stolz drauf, vieles anzubieten und selbst zu kennen. Und dennoch wissen sie nicht, was ein Elektrovelo ist, ja, dass es überhaupt existiert, als das erste Mal eine ganze Gruppe älterer Damen damit an ihnen vorbeirauscht – also nicht etwa Exoten, sondern zu einem Zeitpunkt, als das eBike schon gang und gäbe gewesen sein musste (eine Gruppe älterer Damen). Da mag es den meisten Leserinnen und Lesern schon gar nicht mehr auffallen, dass sich der Autor an einer Stelle, Seite 69, eigentlich endgültig selbst erledigt: «Schau dir den Galileo an, als der behauptete, die Welt sei eine Kugel und nicht eine Scheibe, hätte man ihm am liebsten die Zunge rausgeschnitten. Ja, mit den Sternen sollte man sich nicht anlegen.» – Hat der Mensch denn keine Bildung? Dass die Welt eine Kugel ist, wusste man seit der Antike. Galileo hat lediglich das Kopernikanische Weltbild verteidigen wollen, dass die Erde sich um die Sonne drehe und nicht umgekehrt. Da hätte dann der zweite Satz von den Sternen auch Sinn gemacht – nicht aber auf die Flacherde bezogen! Und nochmals: Klar könnte das den Figuren absichtlich in den Mund gelegt worden sein. Aber dann traut der Autor den beiden Frauen wirklich nichts zu – und vor allem glaube ich das bei all den anderen Fehlern einfach nicht.

Ach, danach quälte ich mich durchs Buch. Mal sind «Winter lang wie Autobahnen» – also ein Zeitmass wird durch ein Längenmass ausgedrückt. Klar könnte das eben einer Figur geschuldet sein; aber es hiesse den beiden Frauen als Erzähler echt nicht viel zuzutrauen, wenn man sie wirklich alle die Banalitäten und falschen Vergleiche sagen liesse, durch die sie wie etwas dümmliche Menschen herüberkommen. Oder sollte das sogar das Ziel sein? Denn meine Frage nach der Erzählsituation wird in der Mitte des Buches definitiv gelöst. Da kommt die Margrit «mit einer Blechbüchse in der Hand aus dem Kiosk, schau dir dieses schöne Foto an». Sie zeigt es daraufhin Rosa – und nur Rosa. Also wird wirklich nicht nach aussen berichtet, sondern es spricht eine Frau zur anderen. Doch kann man an dieser Stelle eine Demenz auch ausschliessen: Zu gut erinnern sich beide an die 51 Jahre. Warum aber dann das Foto zeigen, als der Kiosk im Schnee versank? Erinnern sich doch beide ungefragt daran: «Als hätten die Heiligen uns den schönen Kiosk weggezaubert, sagt die Rosa-Maria.» Und: «Da haben wir schon noch gestaunt, sagt die Margrit, als wir am Morgen über die Brücke kamen». Kann man sich diesen Dialog zwischen zwei Kolleginnen vorstellen, die seit 51 Jahren jeden Tag nebeneinander arbeiten und alles miteinander erleben?

Ach, wie soll man danach zu Ende lesen ... Ich habe noch Klischees rausgesucht. Und man sage mir nicht, dass dies alles Wahrheiten sein könnten; natürlich können sie das; aber in dieser Masse sind es eben wirklich nur noch Klischees: da kauft der Pfarrer Sexhefte; da nehmen die beiden Frauen keine Tausendernoten an; da leidet der Kiosk an einer Umfahrungsstrasse, wodurch die Kundschaft wegbleibt (aber andererseits seien sie die Zentrale des Dorfes!); der Fotograf aus dem Städtli hat ein Glasauge (haha); Rosa-Maria trägt eine Brille mit Goldrand; seit den neunziger Jahren gibt es keine richtigen Winter mehr; und obwohl sie vor einer Kurve ein Schild aufstellen, passieren regelmässig Unfälle (man sieht regelrecht die komikhafte Situation in einem Trickfilm); und «wenn die Wetterfrösche in den Nachrichten sagen, dass es am nächsten Tag schneie, dann schiffet es meistens»; und selbstverständlich finden die beiden Frauen, dass Autos ohne Benzinmotor keine richtigen Autos seien.

Aber auch das gebe ich auf und blättere durchs Buch nur noch für deutliche Fehler: Etwa, dass Camenisch im Jahr 1989 eine Kanu-Weltmeisterschaft in Tavanasa stattfinden lässt. Nein! Es waren die Junioren da, und das fand 1990 statt. Klar, die beiden Frauen könnten sich im Jahr getäuscht haben, aber der Autor lässt sie auch noch sich vergewissern: «Das weiss ich noch genau, wir hatten nämlich in jenem Sommer unser 20jähriges Jubiläum. Stimmt, sagt die Margrit und nickt, zum 20Jährigen hat uns der Kosmos das beste Jahr geschenkt». – Ach genau, esoterisch veranlagt sind die Frauen auch noch. Warum? Weil das für Frauen typisch ist?! Aber Camenisch lässt sie ja obendrein noch glauben, dass wenn «einer mit dem Schlauch [im Auto] drin» losfahre, dann gäbe «das eine Explosion». Und rechnen können sie als von einem Mann geschaffene Figuren in einem Roman auch nicht: «Oh, wenn man mit zwanzig anfängt, ist man einundfünfzig Jahre später knapp siebzig»!

Aber auch sprachlich greifen sie, etwa bei Metaphern, voll daneben. Also auch das mag ihnen der Autor nicht gönnen oder er merkt es selbst keineswegs: «Da haben wir bereits ziemliche Spagate gesehen vor unserem schönen Kiosk, wenn es darum ging, etwas am Preis zu schrauben.» Wie bitte? Was soll da ein Spagat sein? Sie wollen bloss etwas billiger. Nichts sonst. Bei einem metaphorischen Spagat versucht man eben mit viel Mühe, zwei gegensätzliche Positionen zu überbrücken. Hier wollen die Kunden nur etwas billiger haben, basta. Da erstaunt die fasche Verwendung von «Jet-Set» wahrlich nicht mehr: «Jet-Set, sagt die Rosa-Maria, wenn eben jemand etwas über die Stränge schlägt und von einer Party zur nächsten schwebt.» Denn: nein, mit Jet-Set ist eine bestimmte Gesellschaftsschicht gemeint. Dass die sich mehr Partys leisten können ist klar, aber nicht automatisch gemeint.

Vielleicht hätte Arno Camenisch besser daran getan, das Kiosk-Sterben als eigene persönliche Erinnerung zu deklarieren, statt zwei Frauenfiguren einzuführen, deren sich Frauen eigentlich schämen müssen. Zudem wären dann die falsch erinnerten Zeitereignisse nicht so wichtig. Und wie er sich im jetzt gedruckten Buch noch selbst einbringt, ist einfach nur peinlich. Da kommt er auf den Seiten 44 bis 47 vor als «der Sohn vom Tini», der «Poet» (!) geworden ist, aber trotzdem «ein lieber Kerl» geblieben sei, der immer freundlich grüsst. Auf Seite 46 ist er dann der Sohn von Bernadetta, «also die Mutter vom Dichter» (!), die es, ach, «in der Tat nicht» etwa «einfach» gehabt hat. Jaja. Und Seite 71 zitiert Camenisch sich dann gleich noch selber, weil er ja «der Dichter» des Dorfes ist (obwohl er längst nicht mehr dort wohnt).

 

Als ich mit dieser Beurteilung bis hierhin gekommen bin, erfahre ich, dass Arno Camenisch nicht in die Short List des Deutschen Buchpreises aufgenommen worden ist. Ich atme etwas auf: Die Juroren sind also wie gedacht nicht völlig verblendet (wenn ich auch die Aufnahme in die Long List nach wie vor nicht verstehe – vielleicht braucht es einen bestimmten Schweiz-Anteil bei den Kandidaten; wenn aber alle am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel Ausgebildeten so schreiben, ist es mit der Schweizer Schreibkunst nicht weit her – und immerhin wird Camenisch von der Anstalt immer wieder als Musterabgänger herumgereicht, was einiges über das Literaturinstitut aussagt). Auch nicht durch die Auflagenzahlen verblendet (die man dem Buch übrigens – Autor und Verleger haben sich wahrlich gefunden – nicht entnehmen kann; der Klappentext weist übrigens bei der Inhaltsangabe ebenfalls mehrere Fehler auf; zudem übersieht der Verleger, der in Personalunion Lektor des Buches ist, solche Fehler wie «der Präsident Bahamas» [recte: der Bahamas]). Doch spricht der Instant-Erfolg (Verkaufszahlen, Besten-Listen; Longlist) und die bereits kurz danach abnehmende Anerkennung (nicht auf der Shortlist; nicht mehr auf den Besten-Listen; angedeutete Verrisse im Berner ‹Bund› [«da steht einer in der Literaturkritik unter Welpenschutz, schreibt jedes Jahr den gleichen Roman, und keiner sagt was?»; 19.09.2020)] ja auch für sich: Der Jahrhundertroman «Ulysses» verkaufte sich in den ersten Jahren kaum, während Colin Ross einer der bestverkauften Schriftsteller in den 1920er-Jahren war. – Wer? Genau!

Bleibt für den zustimmenden Leser und die zustimmende Leserin noch das scheinbare Glück beim Lesen. Aber Achtung: Da die Sprache das entscheidende Kriterium in einem Sprachkunstwerk ist, das sogar alles andere mitenthält, ist Kitsch, also sind Klischees und ständig sich wiederholende Floskeln, nicht bloss eine ästhetische Kategorie, sondern auch eine ethische, eine geschichtskritische, eine lebenskritische Kategorie. Gefühle, Bewusstseinszustände, das Denken und Handeln, ja, ein ganzes Menschendasein kann verkitscht sein. Wer solch ein Buch wie «Goldene Jahre» von Arno Camenisch unkritisch liest und sich darüber freut, dem sitzt der Defekt letztlich im Leben. Oder der anerzieht sich einen solchen mit der Lektüre. Und das ist eigentlich ebenso schlimm wie die Verbreitung von Fake News.

Dafür schäme ich mich als Schweizer Kollege.

Und deswegen greife ich hier auch zur metaphorischen Feder: Wenn die Kritiker solch einen Roman loben, muss man doch mal aufzeigen, was unter anderem daran alles falsch ist. Heisst es doch unter anderem über dieses Buch, der Kiosk sei in dieser Geschichte wirklich die Zentrale im Dorf. Das lässt sich aus dem Roman aber gerade nicht schliessen: In der ganzen Erzählzeit kommt kein Kunde vorbei (nur in Erinnerungen). Oder andere meinen, Camenisch sei ein «sprachgewaltiger Schriftsteller». Sprachgewaltig? Wer auf einer halben Seite die beiden Frauen drei Mal als sich ‹schüttelnd› beschreibt! Also so: «Es schüttelt sie»; und zwei Zeilen weiter: «Die Margrit schüttelt es vor Lachen»; zwei Zeilen weiter: «es schüttelt sie» – und nein, das lässt sich definitiv nicht mehr auf die Figuren schieben.

Aber auch ein weiteres Lob stimmt da nicht: Camenisch beschreibe die Dorfwelt eines Dorfes der Surselva wie kaum einer: Dabei kommt das Dorf praktisch nicht vor; der Kiosk steht wie in einer leeren Welt. Aber selbst von der Kiosk-Welt, von der überall gelobt wird, der Autor zeige ihr Verschwinden auf, spürt und liest man kaum etwas: Es ist, als wären in diesen 51 Jahren keine Änderungen aufgetreten: Man findet nichts davon, dass heute die Lotterie-Auswertungen digital ablaufen, nichts davon, dass heutzutage wirkliche Kiosk-Besitzer oft klagen, dass sie für Paketdienste die ganzen Pakete zurücknehmen müssen, obwohl an den meisten Orten dazu der Platz fehlt. So steht denn bei den über 70-Jährigen Kioskbesitzerinnen auch nichts und nie etwas von Krankheiten, die sie hindern würden, die harten Schichten durchzustehen.

Am Ende beschleicht einen echt das Gefühl: Da hat einer einfach noch kurz was aufgeschrieben, an was er sich beim Kiosk so erinnert, also eine sehr spezifische Erinnerung einer einzelnen Person, verbrämt mit etwas Eigenlob («Der Schnauz ist der Tiger vom Denker.», Seite 71) und mit einigen Geschichten, die wohl cool wirken sollen, aber so was von unauthentisch sind, dass man nicht versteht, wie so etwas je gerne gelesen werden könnte.

Und man versteht also nicht, warum solch ein Buch sich gut verkaufen kann und noch weniger, warum es die meisten Kritiker nicht verreissen. Irgendetwas stimmt hier einfach nicht.

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