Zur Freude der Imaginierer
Eine Spitteler-Anthologie im Jubeljahr 2019
Eine
leuchtende, überwältigende Bilderfülle schlägt uns entgegen. Alles ist
sichtbar, nicht nur die ungezählten Dinge und Götterwesen, sondern auch jene
Welt, die uns als innere, unsichtbare gilt; seelische Regungen, Leidenschaften,
alles nimmt körperliche Gestalt an.
Was der Germanistik-Professor Emil
Staiger hier so preist, müsste nicht zwangsläufig gut sein. Denn Staiger mochte
meist eine biedere, bürgerliche Art von Literatur, die in vielen Fällen eher
reaktionär war. So kam es 1966 nicht zufällig zum Zweiten Zürcher
Literaturstreit zwischen Staiger und Max Frisch. Doch Carl Spitteler, um den es
im Zitat geht, wurde zu Lebzeiten (1845–1924) und noch einige Jahrzehnte danach
eben nicht bloss von Liebhabern der «klassischen Literatur» geschätzt, sondern
auch (und sogar eher noch früher) von progressiven Kollegen und
Literaturkritikern wie Carl Albert Loosli und Jonas Fränkel. Das könnte schon
ein Phänomen für sich sein. Aber es wird erst recht eines, wenn man dann lernt,
dass Spitteler vor allem nach 1945 ziemlich schnell einmal als verstaubter
Autor galt und immer weniger gelesen wurde – und zwar wieder sowohl von den
fortschrittlichen Literaturkennern wie aber auch von denen, die sonst dem Kanon
zugetan waren.
Dabei hatte Staiger schon
recht. Was Spitteler zum Beispiel in seinem Roman «Imago» (1906) macht, wie er
da das Innenleben des Protagonisten mit reichem Figurenleben nach aussen
projiziert, das hatte schon die psychoanalytische Schule um Sigmund Freud als
aussergewöhnlich begriffen und ihre Zeitschrift für die Anwendung der
Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften nach dem Roman benannt. Aber auch
Spittelers Epen, wie etwa der «Olympische Frühling» (1900–1905; neue Fassung
1909; Spitteler erhielt für dieses, sein Hauptwerk, vor hundert Jahren den
Literatur-Nobelpreis verliehen, was 2019 allenthalben pompös gefeiert wird),
zeigen ihn als grossen Imaginierer: Das Epos ist voller lebhafter Figuren, die
dem Lesenden eine bunte Welt vorführen, die wir heute der Fantasy-Literatur
zuordnen könnten.
Dies macht auf jeden Fall
Peter von Matt, emeritierter Professor der Universität Zürich und weit über die
Landesgrenzen hinaus bekannter Literaturkritiker und -deuter. Vielleicht
gelingt es ihm in diesem Spitteler-Jubeljahr mit seinem Namen, Carl Spittelers
Werk, das laut von Matt «ein nicht gehobener Schatz» darstellt, «derb und
sinnlich, subtil und erkenntnistief, mit nichts Bekanntem zu vergleichen»
(Vorwort aus dem hier rezensierten Buch), wieder bekannter zu machen. Denn laut
von Matt kommt noch dazu, dass Spitteler nicht etwa veraltet sei: «Herausragend
etwa der Text ‹Vom Volk›. Er analysiert scharfäugig, wie in der Politik mit dem
Wort ‹Volk› umgegangen wird, und man stellt verblüfft fest, dass alles, was er
aufdeckt, auch heute noch geschieht.»
Dass dies nicht etwa der
einzige öffentlichkeitswirksame Text Spittelers war, den man bis heute lesen kann,
wissen Literaturbeschlagene auch selbst, die sich vermutlich vor allem an
«Unser Schweizer Standpunkt» (1914) erinnern werden, die Rede, in der Spitteler
zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur absoluten Neutralität aufrief, oder die
Rede zum Gottfried-Keller-Jubiläum 1919, die als eine der besten von damals
gilt.
Die Anthologie des Nagel
& Kimche-Verlags, herausgegeben von Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn
und eben Peter von Matt, macht sich nun anheischig, den Lesenden «eine
Begegnung» mit dem Werk Spittelers zu verschaffen. Und tatsächlich trifft das
zu weiten Teilen zu. Spitteler wird mit klug ausgewählten Texten aus seinen
Wirkbereichen als Dichter, Denker und Redner vorgestellt. Als Hilfe zur
Interpretation, oder um überhaupt ins Werk hineinzukommen, sind dem Buch neben
dem Vorwort von Matts vier Einleitungen Stefanie Leuenbergers mitgegeben sowie
ein Nachwort von Philipp Theisohn. Für den Kenner von Spittelers Werk ist
dieses Nachwort das, was den Band richtig wertvoll macht. Theisohn breitet darin
– gestützt darauf, wer Spittelers geistige Anverwandten sind – in aller Kürze
so etwas wie eine Erklärung für des Dichters Kreativität aus und was ihn von
anderen Literaten unterscheidet. Selbst dafür, warum er in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts derart bekannt war, hat er Ansatzerklärungen, und warum
diese Gründe in der zweiten Hälfte wegfielen. Überraschend auch die Auslegungen,
dass gerade der Rückgriff in die Epenwelt das ist, was Spitteler heute wieder
lesbar macht und modern – oder besser gesagt: überzeitlich. Doch die
Genialität, wie Theisohn all das darlegt, wie er bei einem Gedicht wie «Die
Mittagsfrau» (in der Anthologie auf Seite 297f.) den Zauber erklärt, den es
ausübt, und wie er zur knappsten Fassung von Spittelers Poetologie kommt («Die
Kunst kann und soll nicht erlösen – sondern die Welt aushalten»), das lese man
am besten selbst nach.
Das Lesebuch bietet neben
den klugen Beiträgen der drei Herausgeber den ganzen Roman «Imago», einige
Erzählungen, Ausschnitte aus den Epen, Gedichte, Essays, einen Ausschnitt aus
dem Werk «Der Gotthard» (1896) und zwei Reden.
Die einzigen drei
kleineren Schwachpunkte sind das Fehlen eines Ausschnitts aus den wunderbaren
Kindheitserinnerungen «Meine frühesten Erlebnisse» (1914), die vielleicht
falsche Auswahl aus dem «Olympischen Frühling», obwohl doch Peter von Matt in
seinem Vorwort Seite 8 auf einen schöneren Teil verweist, sowie die Einteilung
des Buches in vier Abschnitte: Erzähler, Dichter, Denker, Politiker – obwohl es
doch der Untertitel des Buches – Dichter, Denker, Redner – besser macht, da
Spitteler sich eher als Dichter denn als Erzähler sah, und vor allem nicht als
Politiker. Am Ende seines Lebens war er stolz darauf, zu sagen, er habe einzig
mit der Rede «Unser Schweizer Standpunkt» sich politisch betätigt, sonst nie,
geschweige denn sei er Politiker gewesen.
Dies alles aber wiegt
wenig im Vergleich zum Umstand, dass sich drei wichtige Literaturkenner einem
Werk annehmen, das droht, vergessen zu gehen, und dem zu wünschen bleibt, dass
es wenigstens in diesem Jubeljahr 2019 wieder vermehrt gelesen würde. Denn der
«Welt den ‹Prometheus› [1880/1881 bzw. Neufassung 1924] schenken, und die Welt
geht ihren Gang weiter, als ob nichts geschehen wäre, das ist furchtbar»,
meinte bereits Rilke.
Stefanie
Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt (Hgg.): Carl Spitteler.
Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk. Vorwort von Peter von
Matt. Erläuterungen von Stefanie Leuenberger. Nachwort von Philipp Theisohn.
Nagel & Kimche 2019. 470 Seiten. 38.90 Franken. 978-3-312-01122-3 (auch als
E-Book erhältlich)
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