«Endlich kommen wir in diesem Zusammenhang noch auf Spitteler, den Dichter, der es bewiesen hat, dass seine Kraft im Epischen lag, der im ‹Olympischen Frühling›
ein umfangreiches Epos geschaffen hat, das nicht übersehen werden darf, wie
sehr uns auch ein eigentümliches Unbehagen anwandeln mag.» – Emil Staiger reiht
hier in seinen «Grundbegriffen der Poetik» (erstmals 1946; letzte Ausgabe zu
Lebzeiten 1987) gewissermassen (‹versteckte›) Ablehnung an Ablehnung. Denn
obwohl er Spitteler zugesteht, ein ‹Dichter› zu sein, musste er es ihm erst
‹beweisen›, dass ihm das Epische lag, und trotzdem würde er ihn wohl lieber
übersehen, was man aber leider nicht ‹darf›; vor allem jedoch wandelt ihn ein
‹eigentümliches Unbehagen› an: die doppelte Markierung seines Gefühls, das ihn
beim Lesen der Texte von Spitteler offenbar überkam – ihn, der mit seiner
textimmanenten Methode der Interpretation (‹Begreifen, was mich ergreift.›) das
von Texten erzeugte Gefühl wissenschaftlich zu erklären suchte –, zeigt uns,
dass sich der Literaturprofessor an diesen Texten vergebens abarbeitete und
dass er zusätzlich aus irgendeinem Grunde missgünstig war (denn neidisch musste
er als Nicht-Dichter ja nicht sein). Aber da war er nicht der Einzige.
Doch
was ist es denn, das in Texten Carl Spittelers (1845–1924) schon zu Beginn der
Laufbahn des jungen Dichters, beim Erstlingswerk «Prometheus und Epimetheus»
(1880/1881) etwa, Gottfried Keller dasselbe (!) Wort brauchen liess: «Das Buch ist von vorne bis hinten voll
der auserlesensten Schönheiten. Schon der wahrhaft epische und ehrwürdige Strom
der Sprache […] umhüllt uns gleich mit eigentümlicher [!] Stimmung.» (Brief vom
27.01.1881 an Joseph Viktor Widmann; daraus auch die folgenden Zitate) Rührt es
daher, dass Keller sich nicht erklären kann, was «der Dichter eigentlich will»,
auch «nach zweimaliger Lektüre noch nicht»? Und er trotzdem «gerührt und
erstaunt» ist «von der selbständigen Kraft und Schönheit der Darstellung»? Denn
alles bleibt ihm zwar einerseits «dunkles Gebilde» und irgendwie «Unmöglichkeit»,
und trotzdem empfindet er eben andererseits alles «glänzend anschaulich».
Diesen Gegensatz muss man sich noch einmal verdeutlichen: ‹dunkel› &
‹Unmöglichkeit› – und eben doch ‹glänzend› & ‹anschaulich›! Was stellen
diese Gegensätze anderes dar als das dichterische Eingeständnis, dass hier
fühlbar etwas geschrieben steht, was Wichtigstes, Tiefstes beschreibt, das man
aber selbst als Fachmann nicht so schnell zu erfassen vermag, ja, dass da etwas
versteckt bleibt? Immerhin kommt Keller, selber ein gefühlsbehafteter Mensch
(er blieb zum Beispiel auch dann noch Feuerbachianer aus Zuneigung, als die
ganze Gelehrtenwelt fast geschlossen Schopenhauerianer war) – was zur
Spitteler-Deutung wichtig ist, wie man unten sehen wird –, vermutlich ganz nahe
ans Geheimnis, wenn er eingesteht: «Die Sache kommt mir […] vor, wie wenn ein
urweltlicher Poet aus der Zeit, wo die Religionen und Göttersagen wuchsen und
doch schon vieles erlebt war, heute unvermittelt ans Licht träte und seinen
mysteriösen und großartig naiven Gesang [mit solchen ‹Gesängen› kannte sich
Keller aus; über Feuerbach schrieb er ja im «Grünen Heinrich»: «Da ist
Ludwig Feuerbach, der bestrickende Vogel, der auf einem grünen Aste in der
Wildnis sitzt und mit seinem monotonen, tiefen und klassischen Gesang den Gott
aus der Menschenbrust wegsingt!»]
anstimmte.» Man behalte diese Aussage im Kopf, denn das ‹Urweltlichen› ist es
eben wirklich, was bei Spitteler immer eine Rolle spielt ...
Zuerst sollen jetzt noch weitere Stimmen, die
sich bis heute ähnlich äussern, belegen, dass mit Spittelers Texten eben etwas
vorliegt, das man nicht ganz fassen kann, dem man nicht recht und schnell auf
die Schliche kommt. Etwa Peter von Matt, der die Texte insgesamt «schwer zu
fassen» findet (vielleicht ein Grund, warum er bis 2019 sich kaum über
Spitteler geäussert hat; Zitate – auch die folgenden – alle aus dem Vorwort aus
dem Band «Carl Spitteler: Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem
Werk» von 2019) und sie auch – vermutlich ahnend, dass noch viel mehr darunter
verborgen liegt – einen «nichtgehobenen Schatz» nennt.
Diesen ‹Schatz› ein wenig zu heben, macht sich
Philipp Theisohn anheischig. Er kommt auch sehr weit, weil er einsieht, dass es
sich bei Spittelers Texten um Dichtung handelt, der es «obliegt», dem «eine
Stimme zu leihen, das nicht ins Sein gekommen ist» (Nachwort im Lesebuch «Carl
Spitteler: Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk» von 2019;
alles weitere auch von dort). Sie blickten wie «hinab, um dort unten den einen
Moment zu erspähen, in dem sich einst alles entschieden hat.» Und er begreift,
warum Spittelers zentrale Form das Epos sein musste und hilft uns mit
Riesenschritten, dem Geheimnis näher zu kommen, wenn er sagt: «Die Gegenwart
erscheint in diesen Texten immer als Resultat einer vorgängigen Verfehlung, die
das Epos zwangsläufig als ein Problem der Weltentstehung verhandeln muss.»
Hier kratzt Theisohn mehr als an der ‹Lösung›.
Nur einen Schritt muss man noch gehen und sich klarmachen –: Was sagt das denn
eigentlich, dass die Gegenwart immer
ein Resultat einer vorgängigen Verfehlung ist? Wenn es zum Beispiel um eine
spezifische Kindsgeburt ginge, könnte es einfach den Zeugungsakt meinen; aber
da Theisohn wie Keller und Staiger vor ihm einsieht, dass dies in jedem Text immer so geht, dieses Spezielle, ist es eben nicht nur irgendeine
Verfehlung, sondern immer wieder
kommt der geheime Blick auf die
Verfehlung, auf die Verfehlung per se,
die ursprünglichste Verfehlung allen Seins: Es ist die Verfluchung, die
Verdammung des Urknalls, oder, mythischer gesagt, vorzeitlicher, das
knirschende Weinen vor dem Umstand, dass es leider nicht nichts gibt. Und in
einer kleinen Abwandlung davon die Suche nach dem Warum eines Nicht-Nichts
anstelle eines eigentlich präferablen Nichts. – Darum war auch das
Theologiestudium Spittelers nicht völlig abwegig: Befand er sich doch schon
sehr früh auf der Suche nach dem Sinn überhaupt, nach einer Erklärung für das
Dasein im Gegensatz zum Nicht-Sein – nicht nur seiner selbst, sondern der Welt,
des Universums. Aber er merkte, wie er eben vieles im Gespür richtig machte,
dass die Suche weitergehen würde oder, ehrlicher, dass die Antwort an sich
schon feststand: Es wäre besser, gäbe es die Welt nicht. Als Künstler aber
glaubte er an die Macht der Literatur, die Menschen hinter diese Dinge sehen
lassen zu können und, da sie eben eine Erlösung auch nicht schafft, wenigstens
helfen kann, die Welt auszuhalten.
Darum auch sein Wahlspruch: «Mein Herz heisst ‹Dennoch›.»
Daher kommt also das seltsame Gefühl all der
Lesenden, selbst der Profis. – Aber die Missgunst, fragen Sie? Vermutlich, weil
Spitteler schon früh hinter all diese Dinge gekommen sein musste, zumindest
intuitiv – schliesslich wusste er bereits als Heranwachsender, dass er Epen
schreiben wollte und zeichnete schon eine Menge der später beschriebenen Bilder
in Schulhefte (siehe zum Beispiel in «Carl Spitteler zum 100. Geburtstag»,
Seite 15) –, darf man annehmen, dass er eben auch später vieles intuitiv
richtig machte, vieles unerklärlich
richtig machte. Er merkte zum Beispiel, dass er beim Erstlingswerk eben bis ins
36. Lebensjahr brauchte, um es veröffentlichen zu können, dass er seine
‹Variantenmühle› durchleiden musste, ohne zu verzagen; dass er auch später viel
Zeit brauchte, selbst wenn das hiess, als er noch Brotarbeit leisten musste,
dass die Veröffentlichung von Werken Jahre auseinander lag; bis er eben vom
ererbten Geld des Schwiegervaters leben konnte und sein Output sich massiv
steigerte, ohne schlechter zu werden; bis ans Ende des Lebens, wo er sich
wieder zehn Jahre Zeit nahm für sein letztes Werk. Das er also alles im Grossen
gesehen richtig machte. Aber Neid vielleicht auch, weil man wie Peter von Matt
merkt, dass Spitteler selbst im Kleinen irgendwie alles richtig gemacht hat,
gerade dann, wenn seine Verse «derb» sind oder er sich «schnappende Reime»
leistet. Oder dass er oft zur historisch (also nicht nur sein Leben betreffend)
richtigen Zeit das Richtige tat, wie bei «Unser Schweizer Standpunkt» im Ersten
Kriegsjahr 1914 des Ersten Weltkriegs. – Und vielleicht ist es eben doch
hauptsächlich auch ein Neid, weil man bei Spitteler lange nicht
alles merkt, nicht hinter die Hauptsache kommt, oder erst langsam. Auch ich
brauchte 24 Jahre dazu.
So
oder so: Spitteler hat – irgendwie – fast immer alles richtig gemacht. Und er kam dem Geheimnis des Lebens
beziehungsweise des Universums auf die Spur sowie der ewigen
Daseinsberechtigung für die Kunst, die Literatur. Unser aller Herz heisst:
DENNOCH!
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