ZUR ZUSCHAUERROLLE BEGNADIGT
Ein Spitteler-Buch zum Jubeljahr 2019
Dieses Abgeblätterte sieht für mich aus wie das, was mein Vater mir mal sagte, was er sich habe merken müssen in der
Schule: Die Schweiz sehe aus wie eine Wildsau. So
sieht der Fleck für mich aus.
Ist es ein Spitteler-Buch für das Carl-Spitteler-Jubeljahr?
Ja, schon. Es widmet sich dem sicherlich gesellschaftswirksamsten Text (höchstens
der Roman Imago hat im Bereich der frühen
Psychoanalytikern ähnliche Wirkungen entfaltet) des Literaturnobelpreisträger
von 1919 (1920 überreicht), Unser
Schweizer Standpunkt, als Rede gehalten im ersten Kriegsjahr des so
schrecklichen Ersten Weltkriegs, um die Schweizer gütig, aber mahnend an die
absolute Neutralität, die ihnen eigentlich seit Langem auf die Fahnen
geschrieben war (sie hatten sich zum Beispiel, obwohl auch in Katholiken und
Protestanten geteilt, grösstenteils schon aus dem 30-jährigen Krieg des 17. Jahrhunderts
herausgehalten), zu erinnern.
Denn nicht immer wissen die Bürger eines Staates,
was sich gehört, und nicht immer muss man tun, was seit Jahrzehnten feststeht. Drum
kann man in der Schweiz ja auch ganz konkret und per direkter Demokratie
Änderungsvorschläge einbringen. Es wäre also möglich gewesen, die Neutralität bei
genügender Nachfrage fallenzulassen und sich mit eisernem Willen dem Schweizer ‹Kriegs›-General
anzuschliessen, der am liebsten an der Seite von Kaiser Wilhelm in den Kampf
gezogen wäre – oder so will es immerhin die Legende.
Dazu gekommen ist es dann zum Glück für die Schweiz
doch nicht. Und dass sie bis heute ein reiches Land ist, verdankt sie wohl dem
Umstand, dass sie weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg zerschossen,
zerbombt und der denkenden Substanz beraubt wurde. Im Gegenteil: Viele
Intellektuelle flüchteten in beiden Kriegen in unser Land, wo sie ihren
wichtigen Teil zum Wohlstand der Nachkriegsjahre beitrugen.
Es ist also nicht wenig, was wir zu einem Teil
auch Carl Spitteler (1845–1924) verdanken, der ein bisschen Frieden zwischen
die Romands und die Deutschschweizer gebracht hat[1], weil er ihnen sagte – mit eindringlicherer
Wirkung, als das zuvor durch den Bundesrat der Fall war –, wir seien doch
hierzulande gewissermassen alles Brüder.
Brüder, die jetzt halt zusehen müssten, wie sich eigentlich geliebte Nachbarn stritten. Aber es sei eben
unsere Aufgabe, bei Nachbarn nach allen
Seiten hin die nämliche Distanz zu halten.
Diese Rede nun also
nahm sich der Rotpunktverlag zum Anlass, acht Schweizer Schriftstellerinnen und
Schriftsteller um einen Text zu bitten, der mit Unser Schweizer Standpunkt sich in den Dialog begeben sollte – 105 Jahre
später: Was kann uns der Text heute noch sagen? Was hat er vielleicht neben
seinem eigentlichen Ziel bewirkt?
An dieser Stelle muss
ich rasch persönlich werden. Ich bespreche sonst eigentlich nur Bücher, die ich
aus vollem Herzen loben kann, empfehlen. Aber ich bin bei einer knappen
Handvoll von Autoren eben eine Art Experte – und da gehört seit mindestens 2004
Carl Spitteler dazu. Man verzeihe mir also, wo es mir eine Aufgabe ist, wenn
ich hier nicht nur loben will, sondern teilweise auch ablehnen muss.
Aber zuallererst gilt
es zu sagen: Dank dem Rotpunktverlag! Wieder einmal widmet er sich einem
Klassiker der Schweizer Literatur, der in vielen anderen Verlagen nie auch nur
mit Strahlenschutzhandschuhen berührt würden. Und er tut dies nicht nur durch
einen Wiederabdruck dieser einen Rede, sondern er lässt diese Rede in die heutige
Zeit holen, indem er sie Schriftstellerinnen und Schriftstellern im Alter von
32 bis 85 Jahren hinlegt und sie einlädt, in einen Diskurs einzutreten.
Das beginnt zumindest
äusserlich hervorragend: Das Buch liegt als Taschenbuch leicht und geschmeidig
in der Hand, es ist schön gestaltet, hat auch im Innern einen schönen
Satzspiegel und der Verlag gibt – das ist bei Spitteler, dem versteckten Patriarchen,
gar nicht dumm – die ganze Herausgeberschaft einer Frau in die Hand. Blöd nur,
dass diese mit dem Vorwort einen der ungeschicktesten Texte zum Buch beiträgt.
Das beginnt damit, dass sie statt der Griechen, die Spitteler so nah waren,
lieber die Römer zitiert, und endet mit dem Wunsch, die Veröffentlichung möge
zum Nachdenken anregen und «dazu, Stellung zu beziehen, um in der Komplexität des
Denkens ein Gleichgewicht zu finden.» – Heisst das nicht, dass wir Leser uns
mit unseren Meinungen schön im Raum verteilen müssten, gewissermassen als
ausgewogene Familienaufstellung, damit wir eben ‹ein Gleichgewicht finden›? Und
wehe, zu viele haben dieselbe Meinung!
Dabei wollte Spitteler nichts
weniger als den Schweizern den Mund verbieten. Er wollte nur, dass wir neutral
bleiben, nicht kämpfend eingreifen, und mit Anstand denken und reden. Aber von
vornherein bei persönlichen Meinungen ein Gleichgewicht zu fordern, das kann
nicht Ziel seiner Rede und seines Denkens gewesen sein. Wie auch nicht Ziel einer
heutigen Auseinandersetzung mit seinem wichtigsten Text.
Aber nicht genug damit
bei der Herausgeberin Camille Lüscher (*1987). In der Mitte des Textes bringt
sie es fertig, Spittelers Rede zu loben, weil er «literarische Mittel» benutze,
«starke Symbole, Metaphern und Elemente der Mythologie». Um eine Seite weiter
hinten (!) den Rest von Spittelers Werk zu diskreditieren mit dem Argument, es
sei «für den Geschmack unserer Zeit wohl zu sehr mit Symbolismus und Allegorien
beladen». Da wundert es kaum noch, dass sie sich offenbar wenig eingelesen hat,
wenn sie sagt, Spitteler habe wohl den Nobelpreis Romain Rolland zu verdanken.
Das ist inzwischen lange und gründlich widerlegt. Meine Empfehlung an
Leserinnen und Leser: Überspringen Sie das Vorwort.
Denn danach kommen
gleich zwei absolute Glanzpunkte des Buches: Spittelers Rede von 1914, über die
ich jetzt weiter nichts sage, und der enge Bezugsbeitrag dazu von Adolf Muschg
(*1934). Er bettet Spittelers Vortrag in die damalige Zeit ein, weist die
Leserin und den Leser richtig darauf hin, dass der Text anfangs in Deutschland
viel gewichtigere Wirkung entfaltete als bei uns, nämlich eine stark ablehnende
Haltung gegen den Verfasser, weil er den Einmarsch Deutschlands ins neutrale
Belgien darin am Rande kritisierte (Adolf Frey zum Beispiel hielt ihm das damals
sofort vor: Man dürfe sich nicht unparteiisch nennen und dann eine Kriegspartei
kritisieren; was natürlich ‹Neutralität› falsch versteht: Wenn echtes Unrecht
vorliegt, darf man als Unparteiischer immer verurteilen). Dann führt Muschg den
Lesenden wie an der Hand vom Damals ins Heute, erzählt von seinen Grosseltern,
die die deutschen Siege jeweils mit einem Ehevollzug feierten (was uns spüren
macht, was wir eben kaum noch glauben: dass wirklich viele Schweizer bis weit
in den Weltkrieg hinein intensiv deutschnah waren), macht aus General Willes
Psyche zu Beginn der Krieges, wie sie auch in Meinrad Inglins Roman «Schweizerspiegel»
nachzulesen sei (übrigens sind dort auch Reaktionen auf die Rede Spittelers
nachzulesen), keinen Hehl, was eben 1918 dann zur fatalen Reaktion des Militärs
auf den Generalstreik in der Schweiz führte, als Willes Vollstrecker gnadenlos mit
scharfer Munition in die Menge schiessen liess.
Muschg macht so weiter,
findet erstaunliche Parallelen zwischen Spitteler, seiner Rede und der
nachfolgenden Zeit in der Schweiz, lobt die Rede als «Akt der Zivilcourage»
(Spitteler, der zuhause meist Standarddeutsch sprach, wusste sehr wohl, dass
ihn die Rede teilweise sein deutsches Publikum kosten würde), den Dichter als
seiner Zeit im Gegensatz zu Gerhard Hauptmann und Rilke, die beide dem «Schicksalhaften»
des Krieges aufgesessen seien, weit voraus. Er findet das schöne Wort, dass wir
damals ‹zur Zuschauerrolle begnadigt› (ähnlich sah das Jacob Burckhardt) worden
seien, ein Umstand, den sich die Schweiz in den 1930er-Jahren dann wiederum mit
Spittelers Rede im Kopf ans Herz gelegt habe – was aber nicht mehr im Sinne Spittelers
gewesen sei: Da sei seine Rede nur noch aus Verklärung herbeigezerrt worden,
was man «zur Verteidigung der Neutralität» nicht nötig gehabt hätte. Muschg
verschränkt diesen Umstand mit der Stimmung damals, der Gesinnung ums
Landi-Dörfli und den halt doch auch hierzulande verwesenden «Gerüchlein von Blut
und Boden». Die Schweiz sei damals in Selbstgratulation und Opportunismus
versunken, etwas, was Spitteler genau nicht gewollt hatte. Dass sie danach aus
allem noch eine «Heldenlegende für sich selbst» gebastelt habe, dafür brauche
man sich heute noch zu schämen.
Spittelers Rede hingegen
sei ein Friedensprojekt gewesen, das, hätte man es europaweit beherzigt, davor
hätte schützen können, seine Feinde derart feindselig zu behandeln, wodurch
jede «humane Errungenschaft mit Füssen» getreten worden sei, was später dazu
geführt habe, dass man im tieferen Sinn sein eigener Feind geworden, was
wiederum zur inhumansten Folge führte: dem Holocaust. Spitteler habe zu Beginn
des eigentlich ebenfalls gut dreissigjährigen Krieges (vom Beginn des Ersten
Weltkriegs 1914 bis zum Ende des Zweiten 1945) ein Sensorium gehabt, wie man
allenfalls all dies noch hätte verhindern können. So sei die Rede vielleicht
auch als ein Uranstoss zur Europäischen Union zu verstehen, wichtigster Beitrag
unseres Landes zu einer Errungenschaft, die heute bereits wieder hinterfragt
wird.
Dann kommt der Text von
Dorothee Elmiger (*1985): Ich war skeptisch – wie ich allen gegenüber skeptisch
bin, die als Schriftsteller/innen (ausser es wäre ein Kunstprojekt) eine Art Starrolle
spielen: Besitze ich doch von ihr aus zweiter Hand (in einem antiquarischen
Buch gefunden) eine Autogrammkarte: Da sitzt sie auf einem apfelroten Bänkli
von «Appenzellerland Tourismus» und schaut aus stark geschminkten Augen in die
Kamera; in Schulterhöhe ihre Unterschrift –, aber: Es ist hier in der
Anthologie trotz alledem ein guter Text.
Er trägt den Titel «Anrufung
des Wildschweins» und umkreist den Text Spittelers in immer enger gezogeneren
Schlaufen. An sich sind alle Personen darin fiktiv, also auch das «Ich», das
vorkommt, der Freund aus Deutschland, ein Förster usw. Sie alle beziehen sich
auf Spitteler und dann auch wieder nicht, der Text changiert zwischen dem Text
von Damals und dem Heute, bis dem Lesenden am Ende – und das macht ja die Kunst
aus – wie selbstverständlich erscheint, dass heutzutage das Bruder-Sein Carl
Spittelers sich erstens auf die Schwestern mitbeziehen müsse, die aber zweitens
nun wie zuvor in der Schweiz selbst (Stichwort «Willensnation»!) heute eben
überall auf der Welt als solche gesehen werden müssten. Trauer und Leiden und
das Glück des Verschont-Werdens, wenn man es denn habe, seien universal
erlebbar. Oder aber wenn ein Leichenzug vorbeigehe, nehme man – wie es schon bei
Spitteler heisse – carlverdammtnochmal den Hut ab!
Nach diesen drei feinen
Texten macht das Buch einen langen, tiefen Taucher. Pascale Kramer (*1961),
seit Jahrzehnten in Paris zuhause, bezieht sich nie konkret auf Spitteler, schreibt
aber nach eigenen Erlebnissen in der Zeit rund um das Attentat auf Charlie
Hebdo im Januar 2015, Religionen verlangten «letztlich nicht viel, einfach nur,
dass man ihnen zugesteht, die Religion als etwas Heiliges anzusehen». Als Frau,
die auch im Namen der Religion in der Schweiz bis 1971 kein Stimmrecht hatte, und
der – wäre sie als Kind in einer bestimmten Religion aufgewachsen – erst vor
Kurzem zugestanden worden wäre, dass sie nicht im Namen der Religion am Geschlechtsteil
verstümmelt werden dürfte (man hat allerdings vergessen, dasselbe für noch
nicht volljährige Knaben festzuhalten), müsste sie eigentlich erkennen können,
dass mit ihrer Aussage auch jede Art von ‹heiligem Krieg› gerechtfertigt wäre.
Und das kann nicht im Sinne der heutigen Zeit und auch nicht im Sinne von Carl
Spitteler sein.
Da überrascht dann ein
Fehler wie der folgende gar nicht mehr: «Sie wurde am Ende des Krieges geboren,
1968 war sie zwanzig.» Meines Wissens war in Europa 1945 der Krieg vorbei. Oder
eine nicht weiter dargelegte Prämisse wie «Achtung vor der Religion gehe einher
mit der Achtung vor dem Alter», denn letzteres brächte Pflegepersonal, das
muslimischen Glaubens sei, nur fertig, weil dies, also die Religion, ihr
letzter Rest von Identität sei in einem Land und einer Sprache, die beides nicht
ihre Heimat sein könne. Da kann jemand also das allgemeine Menschsein, wie es
Spitteler betonte, nicht als Heimat, als Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft
von Brüdern und Schwestern sehen. Was bedauerlich ist. – Und so bedaure ich Pascale
Kramer wenigstens, wenn sie sagt, ihre Hoffnung sei eine Woche nach dem
Anschlag enttäuscht worden, weil die Macher von Charlie Hebdo nicht «darauf
verzichteten, den Propheten darzustellen».
Auch der Text von
Monique Schwitter (*1971) bleibt weit hinter dem vielversprechenden Anfang zurück.
Denn da sieht die Schriftstellerin zunächst genau hin, zieht erstaunliche
Parallelen: So möchte sie Spitteler eigentlich «Helvetus» nennen, weil er im
bekannten Bild von Ferdinand Hodler (hier wird denn auch das immer wieder
hervorgezerrte Bild von Spitteler, das der Maler 1915 anfertigte, als einzige
Illustration im Buch abgedruckt; immerhin passt es auch zeitlich zur Rede, die
ein Jahr zuvor gehalten wurde) wie ein «Brocken, ein Berg von einem Mann»
scheine, Symbol für sein Land «von den erdigen Hängen seines Jacketts über den
Tiefschnee seines Bartes bis hin zum ewigen Eis seiner hohen Denkerstirn». Sie
vergleicht das Porträt auch mit dem, das Hodler von General Wille malte, und
kommt zu bemerkenswerten Feststellungen.
Aber weiter hinten
stimmen dann schon die Fakten nicht mehr: Die Freundschaft von Hodler und
Spitteler gründe sich in der Kritik der Beschiessung der Kathedrale von Reims
durch die Deutschen, wenn man gut nachlesen kann, dass es Carl Albert Loosli
war, der die beiden einander vorstellte – und zwar weil Hodler anhand einer
Handschriftenprobe von Spitteler ausrief, das müsse doch ein Genie sein. So
liest man auch etwas gezwungen weiter, wenn Schwitter im Gegensatz zu Muschg
und eben wirklich fälschlicherweise sagt, Spitteler habe nie und nimmer wissen
können, wie es heute aussehe, nichts über die ‹Glaubenskriege› und so weiter.
Dabei macht genau das
doch oftmals unter anderem einen Dichter aus: Spitteler konnte sich eben aufgrund
der Natur des Menschen (er weiss sich hier mit Schopenhauer einig) gut
vorstellen, wie es ist und sein wird – und dass eben ein ausgedehnteres ‹Brudergefühl›
sehr wohl helfen könnte, Kriege zu verhindern. So aber meint Schwitter auch,
damals habe niemand ahnen können, dass wir Menschen den Planeten einmal an den
Rand des Kollapses bringen würden, wenn doch seit Thomas Robert Malthus «Essay
on the Principle of Population» (1798) solche Szenarien wie heute immer wieder
vorausgedacht wurden. Für den simplen Nachdenker ist es eben immer ein ‹Wunder›,
wenn eintrifft, was wahre Denker schon lange ankündigten …
Blöd wird der Text dann
allerdings erst richtig mit einer Deutschland-Schelte, das Schwitter, obwohl
sie in Hamburg lebt, als unbrauchbar für Europas Zukunft hält, zumindest in
einer Führungsrolle: «Und wer wäre ungeeigneter, diesem Gebilde [Europa]
vorzustehen als Deutschland?» – Dabei hat dieser Staat, gerade aus zwei Weltkriegen
und mit einem bis heute anhaftenden, mehr oder minder kollektiven Schuldbewusstsein
(die AfD schliesst sich da natürlich aus), viel gelernt, viel durchdacht: Welches
Land seiner Grösse stellt weltweit mehr Wohnungen für geflüchtete Künstler zur
Verfügung als das wiedervereinigte Deutschland? Kaum eines. Weil man eben
weiss, was man der Weltgemeinschaft nach zwei Weltkriegen schuldet. Und nicht zuletzt
war es Deutschland, das mit Frankreich zusammen den Grundstein für eine EU, wie
immer man dieses Gebilde einschätzen mag, gelegt hat.
Nach Schwitter folgt
ein Text von Daniel de Roulet (*1944), der dem Buch die Ehre rettet, es nicht
gleich nach Spitteler / Muschg / Elmiger abbrechen haben zu lassen. Auch er
geht zwar nicht wahnsinnig direkt auf Spitteler ein, erzählt aber geschickt (hat
man schon gemerkt, wie könnerhaft de Roulet Geschichten konstruiert?) eine
Parallelgeschichte seiner Grossonkel Léopold (in Paris niedergelassen) / Charles
(USA) / Albert (in der Schweiz geblieben) und Blaise Cendrars / Le Corbusier / Louis
Chevrolet: So geschickt, mit solcher Könnerschaft, dass ich es nicht vermag,
sie wirklich zusammenzufassen. Man muss das schon selbst lesen, wie beste
Literatur das stets einfordert.
Aber immerhin kann man
sagen: De Roulet kennt die Fakten, hat gut recherchiert, zieht bei den Vergleichen
auch die üble Sache der «Eingabe der 200» heran, die, obwohl man ja mit Spitteler
im Mund in den Zweiten-Weltkriegs-Jahren neutral sein wollte, die also, diese ‹200›,
alles Persönlichkeiten aus dem Bankensektor und der Industrie sowie Offiziere
der Armee, beim Bundesrat eine Eingabe machten, man möge sich doch Deutschland
anpassen und bitte auch eine Pressezensur einführen. Etwas, das Spitteler auf
diese Weise sicher nicht wollte, wenn er sich für eine selbst auferlegte Vorsicht
aussprach, nicht eine von aussen diktierte. Und auch der ehrenvolle Empfang für
den General Westmoreland in der Schweiz 1968 kommt in den Parallelhandlungen de
Roulets vor, Westmoreland, der die Deiche des Roten Flusses bombardieren
wollte, um «auf einen Schlag sieben Millionen vietnamesische Bauern» vernichten
zu können.
Die letzten drei Texte,
von Catherine Lovey (*1967) und den beiden italienisch schreibenden Autoren,
sind eigentlich eine kleine Beleidigung. Fabio Pusterla (*1957) klebt einfach einige
Gedanken an einen bereits gedruckten Text und legt weiter zwei ebenfalls schon
gedruckte Gedichte bei. Nichts davon steht wirklich im Zusammenhang mit
Spitteler.
Auch Loveys Text ist schlecht
zusammengekleistert, immer wieder unterbrochen von «Tweets», worin sie etwa gegen
die «#Oldinstitution» Nobelpreiskomitee wettert, nur, um selbst ein Bild von
Europa wie vorvorgestern zu offenbaren: «Eines Tages ass ich in Wien gerade
Gurken zum Frühstück [wie sinnig] und war von vielen Dingen in der
österreichischen Hauptstadt so richtig angetan. Zuallererst von der Ruhe [was
für ein Bild von Wien!], der Oper [von wegen ‹Old Institution›] und von der
Lage dieser Stadt am östlichen Rand Europas». ‹Am östlichen Rand Europas›! Was
ist das für ein Mensch, für den heutzutage Europa im Osten nach Österreich
aufhört! Spätestens hier sollten Sie den Text aus dem Buch heraustrennen.
Es würde nichts machen,
wenn Sie dadurch die Lektüre von Tommaso Soldini (*1976) verpassten. Es lohnt sich
kaum. Denn der Text hat nichts, gar nichts mit Spitteler zu tun. Eher mit
Granit Xhaka, Valon Behrami und Xherdan Shaqiri. Aber auch nicht wirklich.
Alles in allem ein
durchzogenes Fazit. Es ist schön, beschäftigt man sich mit Carl Spitteler (die,
die sich mit ihm und seiner Rede bzw. dem Gedankengut beschäftigten), schön,
erscheint dieses Buch, aber etwas mehr als die Hälfte der Texte lohnt in diesem
Umfeld Unser Schweizer Standpunkt
nicht. – Also, ein Spitteler-Buch? Ja, vielleicht mehr als geplant: Denn wie auch
bei ihm, selbst wenn ich in der Carl Spitteler-Stiftung Luzern sitze, muss ich
das sagen, kann man vieles von dem, was gedruckt vorliegt, weglegen. Das
andere, die kleinere Menge hingegen, die lohnt sich, lohnte sich damals, lohnt
sich heute, und wird sich auch in Zukunft lohnen. Das ist eben der Sonderfall
Spitteler.
Das an die Möchtegerns
und Frau Lascher als lasch.
Camille
Luscher (Hg.): Neue Schweizer Standpunkte. Im Dialog mit Carl Spitteler.
Zürich: Rotpunkt 2019. 135 Seiten. 26 Franken. 978-3-85869-821-6 (auch als
E-Book erhältlich)
[1] Obwohl es, wie Gottfried Guggenbühl
1958 aufzeigte, vor allem in dem Sinne zustande kam, dass die Romands sich danach
zurückhielten (mit dem Schimpfen auf die Deutschschweizer und Loben der
Franzosen), weil wenigstens ein grosser Dichter, also nicht wie sonst fast die
gesamte Deutschschweiz, ihnen zeigte, dass man ihre Meinung schon auch
respektiere. Die Deutschschweizer haben mit dem Welschen-Bashing und
Deutschen-Lob fast gleich weitergemacht wie zuvor.
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