WAS MUSS ES DOCH MEHR ALS ALLES GEBEN
Das Kind spielt.
Mit
den Jahren langweilen es die immer gleichen Spielzeuge. Es muss doch etwas mehr als alles geben, denkt es. Denn bisher war
die Wohnung das Einzige, worin es sich frei und selbstständig bewegen konnte.
Und nur was darin vorhanden war, konnte es in seine Spiele einbauen.
Nun
zeigt ihm die Mutter eine Welt draußen, Tausend neue Eindrücke und Hunderte von
neuen Gegenständen, die sich in die Spielwelt integrieren lassen. Ja, noch
besser: neue Spielkameradinnen und Spielkameraden. Was will es mehr? – Doch
auch hier geschieht es mit den Jahren, als es scheinbar alles abgelaufen ist,
alle Spiele gespielt hat: Es muss doch
etwas mehr als alles geben, denkt es.
Und
kommt in die neuen Lebenswelten: Kindergarten, Schule, Sportverein und
Spielverein. Es spielt am Morgen, es spielt am Nachmittag, es spielt am Abend
bis in die Nacht. Und manchmal spielt es bereits in der Nacht. Aber auch dieser
Kontakt verliert seinen Reiz: Es muss
doch etwas mehr als alles geben, denkt es noch befangen in den ihr
zugestandenen Grenzen.
So
startet es eine Ausbildung, eine Karriere, kauft Autos, kauft Kleider, kauft
Schnickschnack, kauft neue Kommunikationsmittel zur Verbindung in die ganze
Welt und bereist sie auch, die Welt. Alles, alles nimmt es auf. Trotzdem: Es muss doch etwas mehr als das alles geben, denkt es eloquent, ich muss
die vorhandenen Grenzen durchbrechen.
Und
es verliebt sich, es heiratet, hat Kinder, hat ein Haus, einen Familienwagen
und bunte Tapeten im Raum, wo die Kinder nun im kleinen Alles aufwachsen. Und es freut sich über die Abwechslung, dieses
Mal gewissermaßen auf der anderen Seite von all dem zu stehen. Aber mit den
Jahren schleicht es sich wieder ans Herz: Es
muss doch etwas mehr als alles geben!
Es
besucht Lesungen, besucht die Volkshochschule, sieht stundenlang in den Nachthimmel
und merkt, dass man damit nicht wirklich spielen kann. Immerhin könnte es ein
neues Buch schreiben. Aber dieses Spiel will nicht recht gelingen: Die Sätze
torkeln, turkeln, workeln sinnlos herum. Was macht es hier? Es will Sonne, es
will Leben, ein Leben hinter dem Leben. Es
muss doch etwas mehr als alles geben. Doch die eigentlichen Grenzen vermag
es nicht zu durchbrechen.
Es
resigniert. Nach einigen weiteren Spielen. Der erste Krebs ist überstanden, die
Hüften schmerzen, das Schwimmen bereitet auch schon Mühe. Was soll das alles?
Hatte es nicht Freude am Spiel einst und könnte es doch heute noch haben, im
Zimmer, mit viel mehr Sachen als damals? – Ach, es geht nicht mehr. Dumpf fühlt
es sich an, sinnlos, leer. Es muss doch
etwas mehr als alles geben, sagt es den Freunden im Café.
Es
sucht das große Wesen hinter allem oder auch die vielen Wesen hinter der
schwarzen Kuppel der Nacht, hinter dem Strahleblau des Himmels. Was schimmert
durch durch jene Grenzen? Was kann man lesen, womit darf es spielen? Ach, es muss doch etwas mehr als alles geben,
als all das, was man sieht und riecht und spürt. Es muss, es muss!
Am
Ende, schon im Bett, aus dessen Meer es nicht mehr waten wird, auch wenn gesagt
wird, man stelle die Füße nochmals auf den Boden, vor dem letzten Spiel, kommt
es eine Idee an: Die Welt sei gar nicht alles, es werde mehr sehen, mehr, denkt
es noch … Aber weiß man es? Noch niemand hat ein Jenseits je so vorgespielt,
dass es wert wäre, darin länger zu existieren, irgendwie, irgendwo. Denkt der
Arzt. Und er denkt auch, beim Anblick der unseligen Leiche: Es muss halt doch etwas mehr als alles geben!
Am letzten Tag der
Sonne gibt ihm das jüngste Kind sein Lieblingsspielzeug mit ins Grab: Was ist
es?
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