Montag, 16. Dezember 2013

WAS MUSS ES DOCH MEHR ALS ALLES GEBEN
Das Kind spielt.
Mit den Jahren langweilen es die immer gleichen Spielzeuge. Es muss doch etwas mehr als alles geben, denkt es. Denn bisher war die Wohnung das Einzige, worin es sich frei und selbstständig bewegen konnte. Und nur was darin vorhanden war, konnte es in seine Spiele einbauen.
Nun zeigt ihm die Mutter eine Welt draußen, Tausend neue Eindrücke und Hunderte von neuen Gegenständen, die sich in die Spielwelt integrieren lassen. Ja, noch besser: neue Spielkameradinnen und Spielkameraden. Was will es mehr? – Doch auch hier geschieht es mit den Jahren, als es scheinbar alles abgelaufen ist, alle Spiele gespielt hat: Es muss doch etwas mehr als alles geben, denkt es.
Und kommt in die neuen Lebenswelten: Kindergarten, Schule, Sportverein und Spielverein. Es spielt am Morgen, es spielt am Nachmittag, es spielt am Abend bis in die Nacht. Und manchmal spielt es bereits in der Nacht. Aber auch dieser Kontakt verliert seinen Reiz: Es muss doch etwas mehr als alles geben, denkt es noch befangen in den ihr zugestandenen Grenzen.
So startet es eine Ausbildung, eine Karriere, kauft Autos, kauft Kleider, kauft Schnickschnack, kauft neue Kommunikationsmittel zur Verbindung in die ganze Welt und bereist sie auch, die Welt. Alles, alles nimmt es auf. Trotzdem: Es muss doch etwas mehr als das alles geben, denkt es eloquent, ich muss die vorhandenen Grenzen durchbrechen.
Und es verliebt sich, es heiratet, hat Kinder, hat ein Haus, einen Familienwagen und bunte Tapeten im Raum, wo die Kinder nun im kleinen Alles aufwachsen. Und es freut sich über die Abwechslung, dieses Mal gewissermaßen auf der anderen Seite von all dem zu stehen. Aber mit den Jahren schleicht es sich wieder ans Herz: Es muss doch etwas mehr als alles geben!
Es besucht Lesungen, besucht die Volkshochschule, sieht stundenlang in den Nachthimmel und merkt, dass man damit nicht wirklich spielen kann. Immerhin könnte es ein neues Buch schreiben. Aber dieses Spiel will nicht recht gelingen: Die Sätze torkeln, turkeln, workeln sinnlos herum. Was macht es hier? Es will Sonne, es will Leben, ein Leben hinter dem Leben. Es muss doch etwas mehr als alles geben. Doch die eigentlichen Grenzen vermag es nicht zu durchbrechen.
Es resigniert. Nach einigen weiteren Spielen. Der erste Krebs ist überstanden, die Hüften schmerzen, das Schwimmen bereitet auch schon Mühe. Was soll das alles? Hatte es nicht Freude am Spiel einst und könnte es doch heute noch haben, im Zimmer, mit viel mehr Sachen als damals? – Ach, es geht nicht mehr. Dumpf fühlt es sich an, sinnlos, leer. Es muss doch etwas mehr als alles geben, sagt es den Freunden im Café.
Es sucht das große Wesen hinter allem oder auch die vielen Wesen hinter der schwarzen Kuppel der Nacht, hinter dem Strahleblau des Himmels. Was schimmert durch durch jene Grenzen? Was kann man lesen, womit darf es spielen? Ach, es muss doch etwas mehr als alles geben, als all das, was man sieht und riecht und spürt. Es muss, es muss!
Am Ende, schon im Bett, aus dessen Meer es nicht mehr waten wird, auch wenn gesagt wird, man stelle die Füße nochmals auf den Boden, vor dem letzten Spiel, kommt es eine Idee an: Die Welt sei gar nicht alles, es werde mehr sehen, mehr, denkt es noch … Aber weiß man es? Noch niemand hat ein Jenseits je so vorgespielt, dass es wert wäre, darin länger zu existieren, irgendwie, irgendwo. Denkt der Arzt. Und er denkt auch, beim Anblick der unseligen Leiche: Es muss halt doch etwas mehr als alles geben!
Am letzten Tag der Sonne gibt ihm das jüngste Kind sein Lieblingsspielzeug mit ins Grab: Was ist es?

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