Samstag, 5. November 2011

[Seiten 233a & b]

Zugabe

Oft sagt ein Text mehr über den Verfasser aus als über das darin Beschriebene. Er kann aber meist noch öfter etwas aussagen über seine Leserinnen und Leser.
Ein Phänomen zum Beispiel ist es, dass nach all den euphorischen Beschreibungen von Schweiz-Reisen, nach all den schmeichelhaften Stereotypen, die auf dem Höhepunkt der Schweiz-Begeisterung (siehe oben) ihre Kulmination erreichten, viele Schweizerinnen und Schweizer im Zuge des sich herausbildenden helvetischen Nationalismus bald einmal bewusst diesen Stereotypen nachzuleben begannen: Jodeln und Alphornblasen wurden zum Sinnbild schweizerischer Musikalität und wer etwas auf sich hielt, kannte die Trachten und alle Bergspitzen seines Kantons. Wie gerne man schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts all das tatsächlich auch sein wollte, was vor allem die gutmeinenden und auf-einem-bestimmten-Auge-verblendeten Gäste in einem sahen, lässt sich anhand mancher Schullesebücher nachspüren, die etwa unter dem Titel «Unser Luzern» die kitschigen und eindeutig euphemistischen Beschreibungen in gewissen literarischen Texten ohne sie zu hinterfragen als wahrhafte Beobachtungen und tiefe Erkenntnisse über die Wesensart der Schweizer abdruckten. Schlimmer gar: Hört man sich die Neujahrsreden der heutigen Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten an, so muss man meinen, da spräche die sogenannt offizielle Stimme der Schweiz bis heute davon, dass «das Volk, das in diesen Bergen wohnt, vom Schöpfer ureigens für die Freiheit geschaffen worden» sei.
Doch von Carl Spitteler über Paul Nizon und Friedrich Dürrenmatt bis hin zu Charles Ferdinand Ramuz, Carl Albert Loosli, Max Frisch und Lore Berger haben sich Schweizer Autorinnen und Autoren von Rang diesem chauvinistischen Selbstverständnis widersetzt. Und wenn dieses Lesebuch im Nachwort dazu aufruft, sich anhand eines Mikrokosmos wie Luzern einmal Gedanken zu machen und Sichtweisen zu hinterfragen, so ist das gerade nicht gemeint in einer Art und Gesinnung, die ein inzwischen reichlich zubetoniertes und von Autobahnen zugestelltes, völlig zersiedeltes Land immer noch hinstellt als das Gelbe vom Bauernei, das doch längst aus einer tierquälerischen Lege-Fabrik irgendwo neben einem Atomkraftwerk stammt.
Wir schulden den aufrichtigen Blick und die Anerkennung den ungeheuchelten Meinungen jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die lange Zeit verpönt waren, gerade eben, weil sie «als Schweizer nicht schweizerisch» schrieben, sogenannten «Nestbeschmutzern», die viel eher, wie in den meisten Fällen überhaupt, «Nestbeschmutzte» waren und sind.
Beim Blick auf Luzern und seiner Literatur sei aufgefordert zum möglichst «unverschmierten» Blick ohne Vorurteile und getrübte Linsen!

D. R.

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